Sur la route de Phalère (10)

"Du hast ihn zu lieben, ob's dir paßt oder nicht!"


Man sieht auf den ersten Blick, daß hier was nicht stimmt. Und auf den zweiten Blick sieht man, daß dieser Satz zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Kulturen doch möglich ist. Im Fall der romantischen Liebe ist diese natürlich nicht mit Macht- und Weisungsansprüchen durchsetzt. Man liebt nicht auf Anweisungen, Ratschlägen, Prestige oder Habgier, nicht mal aus Vernunft. Die Liebe ist dann nur vorgetäuscht und nicht echt oder wahr.


In vormoderner Zeit war es allerdings durchaus üblich, daß Standesinteressen, politischer Opportunismus, wirtschaftliche Vorteile u.ä. die Gründe für eine Heirat waren. Und bekanntlich ereignen sich noch heute Familiendramen, wenn das junge türkische Mädchen, das in Deutschland aufgewachsen ist, ihren Cousin in Anatolien, den es noch nie gesehen hat, heiraten soll.


Die romantische Ehe läßt sich nicht erzwingen. Sie gründet auf der Freiheit der Entscheidung bei der Wahl des Partners. Dynastische oder wirtschaftliche Interessen sind dabei ausgeschlossen. Doch wie stellt man dies sicher? Durch den Zufall der Begegnung. Der Zufall der ersten Begegnung weist die Authentizität der Liebe aus. Auch wenn sexuelle Interessen am Zustandekommen des Intimsystems beteiligt sind, gehört der Zufall zu den Systemvoraussetzungen der Liebe. - Damit sind Fragen wie "Liebt er mich oder nur meinen Körper?" oder "Liebt sie mich oder nur mein Geld?" nicht aus der Welt, aber der Zufall bleibt das Nadelöhr, durch das man in den siebten Himmel gelangt. Das Geschäftsmodell des Heiratsschwindlers hat nur dann Erfolg, wenn es gelingt, den Zufall glaubwürdig zu arrangieren. Erlaubt sind nur noch defensive Planungseingriffe, ein corriger la fortune, das keinen Verdacht erregt.


Liebesgeschichten und Liebesfilme beziehen häufig ihre Spannung daraus, daß darin hinreichend Kontingenz eingebaut ist, die das Zustandekommen eines Intimsystems protegieren. Ein bewährtes Mittel ist dabei das Incognito. Im ersten Teil der Filmtrilogie Sissi trifft Kaiser Franz Joseph die 15-jährige Sissi zufällig beim Angeln, ahnt aber ihre Identität nicht. Ab da ist der weitere Verlauf von Standes- und politischen Zwängen geprägt, die sich der Liebe in den Weg stellen und die Bildung des Intimsystems auf eine für den Zuschauer spannende Weise aufhalten. In Schlaflos in Seattle verläuft die Anbahnung gleich über mehrere Zufallssequenzen bis schließlich alle durchgespielt sind und Annie und Sam in der Schlußszene auf der Aussichtsplattform des Empire State Buildings zusammenkommen. In Pretty Woman fragt der reiche Geschäftsmann Edvard Lewis die Prostituierte Vivian Ward nach dem Weg. Die Begegnung ist rein zufällig. Hier wird die Beziehung zunehmend mit Romantik aufgeladen entgegen moralischen Standards und gesellschaftlicher Etikette und Regelwerken. Der Film hat bei Frauen womöglich deshalb großen Anklang gefunden, weil die Protagonistin in ihrer Rolle als Prostituierte zwei Systemreferenzen aktualisiert: die zügellose und lustvolle Weiblichkeit jenseits aller gesellschaftlichen Konventionen und das damit verbundene Aufbrechen der von erfolgreichen Männern dominierten feinen Gesellschaft. Der Zuschauerin werden damit zwei Identifikationsofferten gemacht: laszive Verführung und solide Liebesbeziehung.


In Liebesfilmen wird die Kontingenz oft von Korrekturinstanzen eingedämmt, die immer dann in Aktion treten, wenn zuviel schiefzulaufen droht, die im konspirativen Dienst der Liebe stehen. In Sissi ist es der Gendarmeriemajor Böckl, der mal dieses und mal jenes einfädelt, in Schlaflos in Seattle ein Bediensteter im Erdgeschoß, der ein Auge zudrückt, damit auch nach der Schließung des Gebäudes auf der Aussichtsplattform das Happy End stattfinden kann, in Pretty Woman der Hotelmanager, der Edvard dezent klarmacht, daß ihm Vivian viel zu wertvoll ist, um sie zu verlassen.


Intimsysteme brauchen Hindernisse, damit sie an Romantik gewinnen. In Bielefeld sagte man: "Ohne Probleme keine Systeme".

Kommentare 1

  • Letzten Freitag legte mir der drei Stockwerke über mir wohnende Nachbar und Historiker das von ihm herausgegeben Buch mit dem Titel "Dein Brief gibt mir so viel zu denken" in den Briefkasten. Weiter heisst es auf dem Buchdeckel "Der Briefwechsel meiner Eltern 1945-1949, Herausgegeben von Hans Rudolf Stauffacher", http://www.chronos-verlag.ch , 2023. Der Ort der Handlung liegt in den Voralpen, etwa fünfzig Kilometer östlich vom Stoss, Schwyz.

    Innerhalb weniger Tagen habe ich das ganze verschlungen. Es packte mich beim Lesen! Da plaudern zwei über Jahre miteinander, und kribbelnd schaut man den Beiden über die Schulter: fiktionslos spannend! Ein ausgesprochenes Lesevergnügen bereitete mir das Wissen um die Ursprünglichkeit des Briefwechsels. Da zeigen sich zwei Menschen als sich beratende Lebewesen im Intimsystem "Aufkeimende Liebe".

    (o,o)