Sur la route de Phalère (8)

Man könnte die Überlegung anstellen, daß das Intimsystem eine Art Keimzelle der Familie ist und Familien gemeinsam mit Singlehaushalten dann wiederum das System der Gesellschaft bilden. Eine solche Vorstellung verfehlt nicht nur alle Grundlagen der Systemtheorie, sie verzichtet auch in jeder Hinsicht auf den Kontakt mit der Realität.


Die gern beschworene Überprüfbarkeit der Systemtheorie der Gesellschaft an der Realität unterstellt, es gäbe auf der einen Seite die Gesellschaft und auf der anderen Seite die Theorie der Gesellschaft. Und nun könne man beides miteinander vergleichen und dann gegebenenfalls Unstimmigkeiten entdecken oder eine paßgenaue Übereinstimmung. Theorien müßten gemäß der Popper'schen Hypothesenbildungvorschrift so angelegt sein, daß sie an der Realität scheitern können, falsifiziert werden können. Die Gesellschaft ist aber kein präparierbares und isolierbares Objekt, das sich unter sterilen Laborbedingungen in seiner Totalität betrachten ließe. Die Gesellschaft ist keine Entität, kein ontologisches Etwas. Es gibt keine Gesellschaft. Es gibt nur eine Gesellschaft der Gesellschaft. Alles was zur Gesellschaft (der Gesellschaft) "gehört" ist seinerseits das Ergebnis von Beschreibungen, die über die Gesellschaft angefertigt werden. Das gilt auch für die Beschreibungen der Systemtheorie.


Denn wer beobachten will, muß Unterscheidungen machen. Ohne Unterscheidungen besteht die Realität (nicht nur die gesellschaftliche) nur in einem Grundrauschen. Man kann natürlich mit einer anderen Unterscheidung beginnen als mit der System/Umwelt-Differenz; dann müßte man allerdings die theoretischen Vorzüge einer solchen anderen Unterscheidung nennen. Aber auch der Beginn mit einer anderen Unterscheidung (Subjekt/Objekt, Individuum/Gesellschaft, Gemeinschaft/Gesellschaft usw.) bleibt am Ende Theorie der Gesellschaft. Die Umstellung auf eine andere Anfangsunterscheidung ist mit keiner größeren Reichweite verbunden, geschweige denn mit einer Positionierung des Theoretikers außerhalb der Gesellschaft. Keine Theorie der Gesellschaft kann "Dinge" in ihre Texte kleben so wie man es früher im Biologieunterricht mit Gräsern, Blumen, Laubblättern u.ä. gemacht hat. Dabei konnte dann die Artenbestimmung an der Realität, die im Heft eingeklebt war, scheitern.


Die Entrüstung über das Operieren mit systemtheoretischen Mitteln im Zusammenhang mit intimen Liebesbeziehungen, findet ihren Pool an Bedenken in der Illusion, der Dichter sei in einer Position, von der aus er Einblick in das "Geheimnis" der Liebe habe. Das ist ausdrücklich kein Mißtrauensvotum gegen eine poetische Betrachtungsweise der Liebe. Aber auch die Kunst fertigt schließlich Beschreibungen an, die der Systemtheorie vorliegen und an Hand derer sie das soziale Phänomen der Liebe in ihren Blick bekommt.

Kommentare 1

  • Mit der Absicht, das Verhalten der Menschen zu analysieren und dieses womöglich einer Regelhaftigkeit zuordnen zu können, entspricht Luhmanns Systemtheorie zwar bester sozialwissenschaftlicher Forschungsabsicht, bleibt damit aber, infolge deskriptiver Überpräsens und fehlender normativer Leitlinien, dennoch nicht frei von diskutablen Kritikansätzen; schon allein deswegen, um sich, wegen des fehlenden Eingehens auf den Menschen an sich, dem Verdacht einer Ideologisierung (vgl. Habermas hierzu) zu entziehen. (1) So setzt dessen Theorie ganz unkritisch eine Weltkomplexität voraus, ohne dabei zu berücksichtigen, dass es allein aus der Komplexitätsreduktion heraus eben Systeme braucht, welche durch Abgrenzungen und Einschränkungen („Sinngrenzen“) erst Handlungsmöglichkeiten schaffen. (2) Wobei sich nach Luhmann der Sinn dieser Handlungsmöglichkeiten aus innersystemisch herrschenden Verfahrensanweisungen bestimmt, welche selbstbezogen („selbstreferentiell“) daraufhin abzielen, den Fortbestand eines Systems zu sichern („Autopoiesis“). Andere, der Kreativität der Akteure geschuldete Handlungsmöglichkeiten, kommen dagegen gar nicht in Betracht. (3) Gerade letzteres fordert Fragen nach der Legitimierung und der Berücksichtigung gesellschaftlicher (Fort-)Entwicklungen heraus. – Luhmann huldigt damit kritiklos das Bestehende und greift dieses rein funktionalistisch auf. Wohingegen sich soziales Handeln aber weniger funktionalistisch und weniger systemerhaltend begründet, und mehr auf gesellschaftliche Anerkennung hin ausgerichtet bleibt. Dieser prinzipielle Widerspruch mit dessen Kritikern wird an Luhmanns Definition vom Wahrheitsbegriff deutlich. Für Luhmann geht die Verbindlichkeit der Wahrheit aus nach wissenschaftlichen Standards gewonnenen Erkenntnissen hervor. Deren Kritiker hingegen verstehen Wahrheit als den Geltungsanspruch, welcher von den Menschen im kommunikativen Handeln erhoben wird.