Sur la route de Phalère (3)

Möwenflug


Möwen sah um einen Felsen kreisen
Ich in unermüdlich gleichen Gleisen,
Auf gespannter Schwinge schweben bleibend,
Eine schimmernd weisse Bahn beschreibend,
Und zugleich in grünem Meeresspiegel
Sah ich um dieselben Felsenspitzen
Eine helle Jagd gestreckter Flügel
Unermüdlich durch die Tiefe blitzen.
Und der Spiegel hatte solche Klarheit,
Dass sich anders nicht die Flügel hoben
Tief im Meer als hoch in Lüften oben,
Dass sich völlig glichen Trug und Wahrheit.


Allgemach beschlich es mich wie Grauen,
Schein und Wesen so verwandt zu schauen,
Und ich fragte mich, am Strand verharrend,
Ins gespenstische Geflatter starrend:
Und du selber? Bist du echt beflügelt?
Oder nur gemalt und abgespiegelt?
Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen?
Oder hast du Blut in deinen Schwingen?


(Conrad Ferdinand Meyer)


"Daß sich völlig glichen Trug und Wahrheit" - ein Satz, der bei Wissenschaftstheoretikern Nervosität auslöst. Nun ist der Satz ein Vers aus einem Gedicht und als solcher genießt er fürs Erste poetische Immunität. Und doch ist in Umrissen eine Disposition des Lyrikers Meyer zur Systemtheorie darin erkennbar. Polykontexturalität ist in der Systemtheorie eine Chiffre dafür, daß die Welt nicht alles ist, was der Fall ist, sondern für alle Systeme ist die Welt ein anderer Fall. Die Synopsis dieser Fälle ist von keinem Standpunkt aus beobachtbar. Die Einheit dessen, was jeweils der Fall ist, zu denken, führt in die Paradoxie der Beobachtung. Möglich ist nur ein Oszillieren zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung, mit der jeweils operiert wird. Man könnte auch von einem performativen Widerspruch reden, der darin liegt, daß die Gesellschaft eine Form hat, die ausschließt, daß sich ihre Form bestimmen läßt. - Luhmann gibt seinem Hauptwerk deswegen auch nicht den Titel Die Gesellschaft, sondern Die Gesellschaft der Gesellschaft. - Aus poetischer Ferne kreisen Meyers Möwen, "hoch in Lüften" und gleichzeitig (!) "tief im Meer".