Sur la route de Phalère (4)

Operative Geschlossenheit heißt für ein Bewußtseinssystem: es hat keinen Durchgriff auf andere Systeme, zum Beispiel auf andere Bewußtseinssysteme. Ein Bewußtsein kann nicht außerhalb seiner selbst operieren. Es kann nur Gedanken aneinanderreihen. Erst diesen Gedanken, dann jenen. Das schließt nicht aus, daß Konfusionen entstehen können ("Mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf"); doch sind solche Konfusionen letztlich und nur Gedanken. Das Bewußtsein hat die Gedanken, die es hat. Aber keinen von ihnen kann es in ein fremdes Bewußtsein implantieren. "Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf, aus den Gedanken" heißt gerade nicht: wir haben eine Verschmelzung unserer Gedanken, sondern heißt nur: mein Bewußtsein hat laufend Gedanken desselben Inhalts. Eine Okkupation eines Bewußtseins durch ein anderes oder auch nur ein Gemeinsames Dawischen (als Treffpunkt zweier Bewußtseine) würde bedeuten: ego pflanzt Gedanken in das Bewußtsein von alter ego. Ich denke in deinem Bewußtsein. Ich wähle für meine Gedanken einmal das eigene Bewußtsein als Referenz und ein andermal fabriziere ich meine Gedanken in Deinem Bewußtsein. In dem Fall hast Du einen Gedanken, den ich habe. Schlagartig würden sich die Identitäten beider Bewußtseine auflösen. Beide Bewußtseinssystem würden kollabieren. "Hör auf, in meinem Bewußtsein herumzudenken!"


Man sieht, wie absurd die Vorstellung ist, daß ein Bewußtseinssystem auf der Ebene der Operationen, die es macht, offen sein könnte. Operative Geschlossenheit bedeutet aber keineswegs auch kognitive Geschlossenheit. Es bedeutet nicht Autismus. Es bedeutet nicht eine hermetische Abschottung. Das Bewußtseinssystem hat nämlich eine Umwelt und aus dieser Umwelt werden die Vorkomnisse, die es dort gibt, kognitiv verarbeitet. Aber diese Verarbeitung erfolgt - und das ist das Entscheidende - innerhalb des Systems! - Vor mir stürzt eine alte Frau. Ich eile zu ihr und helfe ihr. Daraufhin bedankt sie sich. Die alte Frau stürzt nicht innerhalb meines Bewußtseins. Ich fasse den Gedanken, ihr aufzuhelfen; aber mit dem bloßen Gedanken ist ihr noch nicht geholfen. Sie bedankt sich nicht innerhalb meines Bewußtseins usw. - Bewußtseins können sich nicht überlappen. Es ist die operative Geschlossenheit, die überhaupt erst die kognitive Offenheit ermöglicht! Wären in meinem Bewußtsein zum Zeitpunkt des Sturzes zwanzig Passanten operierend tätig, wäre das Bewußtsein ein einziges Rauschen. Es wären darin die Gedanken dieser zwanzig Passanten, Gedanken an den Chef von Herrn Meier, Gedanken an die letzte Liebesnacht der Studentin Miriam Lehmann, Gedanken an den morgigen Arztbesuch von Herrn Krüger, Gedanken an die Klassenarbeit einer Schülerin namens Gertrud usw. Alles in meinem Bewußtsein. Alles zu gleicher Zeit. Mein Bewußtsein würde heißlaufen und kollabieren.


Daß das Bewußtsein operativ (!) geschlossen ist (nur ich kann darin Gedanken haben), ist keine Erkenntnis, die ein abgeschlossenes Soziologiestudium voraussetzt. Jeder Fünfjährige versteht das. Aber es gibt Menschen, die das bestreiten. Sie bestreiten es, weil sie den simplen Grundgedanken der operativen Geschlossenheit nicht verstehen. Und sie verstehen ihn nicht, weil sie offensichtlich kognitiv geschlossen sind.

Kommentare 1

  • Bildet nicht gerade die hypnotische Suggestion einen gangbaren Bypass zur Autarkie der Luhmann’schen operativen Geschlossenheit psychischer Systeme? Etymologisch bedeutet suggerieren etwas von außen her „verborgen, heimlich herbeibringen“. Im Bertelsmann - Lexikon wird Suggestion als „Beeinflussung des Denkens, Fühlens, Wollens oder Handelns eines Menschen definiert, wobei seine rationalen Persönlichkeitsanteile umgangen werden.“