Flußlandschaft

ἔνθα μὲν εἰς Ἀχέροντα Πυριφλεγέθων τε ῥέουσινΚώκυτός θ᾽, ὃς δὴ Στυγὸς ὕδατός ἐστιν ἀπορρώξ,
πέτρη τε ξύνεσίς τε δύω ποταμῶν ἐριδούπων:
ἔνθα δ᾽ ἔπειθ᾽, ἥρως, χριμφθεὶς πέλας, ὥς σε ύω,
βόθρον ὀρύξαι, ὅσον τε πυγούσιον ἔνθα καὶ ἔνθα,
ἀμφ᾽ αὐτῷ δὲ χοὴν χεῖσθαι πᾶσιν νεκύεσσιν,
πρῶτα μελικρήτῳ, μετέπειτα δὲ ἡδέι οἴνῳ

, τὸ τρίτον αὖθ᾽ ὕδατι



Wo in den Acheron sich der Pyriphlegethon stürzet

Und der Strom Kokytos, ein Arm der stygischen Wasser,

An dem Fels, wo die zween lautbrausenden Ströme sich mischen;

Nahe bei diesem Orte gebiet ich dir, edler Odysseus,

Eine Grube zu graben von einer Ell ins Gevierte.

Rings um die Grube geuß Sühnopfer für alle Toten,

Erst von Honig und Milch, von süßem Weine das zweite, und das dritte von Wasser ...

(Homer, Od. 10, 513)


Die unterirdischen Flüsse der Odyssee, Archeron, Styx und Phlegethon, waren Dante natürlich bekannt. Am Ende von Canto 14 werden sie von Vergil genannt. Doch kennt der griechische Mythos noch einen anderen Unterweltsfluß: Lethe - den Fluß des Vergessens. Lethe befindet sich in seinem oberen Lauf auf der Spitze des Läuterungsberges, dem irdischen Paradies, und fließt von dort hinunter zum Erdmittelpunkt. Der Protagonist muß sich zunächst in diesem Fluß des Vergessens waschen, bevor er ins Paradies eintreten darf. In Dantes christliche-antiker Vorstellungswelt war möglicherweise Lethe ein Fluß, der nicht nur das Vergessen symbolisierte, sondern auch das Vergeben, also ein Vergessen der Sünden. Vergebung der Sünden konnte nicht in der Hölle stattfinden. Hier gab es einzig Verbüßen.



Kommentare 6

  • „… In Dantes christliche-antiker Vorstellungswelt war möglicherweise Lethe ein Fluß, der nicht nur das Vergessen symbolisierte, sondern auch das Vergeben, also ein Vergessen der Sünden. …“


    Machen wir uns hierzu zunächst bewusst, dass wir drei Arten des Vergessens kennen. Beim „Urvergessen“ vergisst man etwas, was man nicht bewusst erlebt hat. Platon beschreibt dieses am Vergessen der eigenen Geburt. Hierüber hinaus kennen wir das „Urverdrängen“ welches uns alltäglich Wiederholbares der Einfachheit halber befreiend vergessen lässt. Und am schwersten wiegt für uns das „Übervergessen“, welches uns nicht wirklich vergessen lässt und dessen Rückbesinnung darauf einem steten Erwachen und Erwecken gleichkommt. Gehen wir davon aus, dass das Trinken aus dem Fluß Lethe vom Letzteren befreit. Denn es heißt, dass ein Mensch, der nichts vergessen könne, auf Dauer keinen Seelenfrieden erlangt. Der argentinische Schriftsteller und Dichter Jorge Luis Borges hat dieses Thema in einer Geschichte mit dem Titel „Das unerbittliche Gedächtnis“ (im spanischen Original „Funes el memorioso“) behandelt. Wer nichts vergessen könnte, würde unter der Last der Erinnerungen gleichsam versteinern.

  • Wo wir schon gerade bei der Vergebung der Sünden sind: Hörst (oder schaust) Du Dir in der Karwoche eigentlich Bachs Matthäuspassion an, Philosophietaucherin? :saint:

    • Dann hast du jetzt mit deinem Kommentar den perfekten Impuls dafür gesetzt. :saint:
      Am Karfreitag machst du dies?

    • Ich habe anderorts heute schon vernommen. Homer und die Bibel gehören zur literarischen Grundbasis was nun für mich sehr einleuchtend ist.

    • In den Tagen um Karfreitag setze ich mir irgendwann Kopfhörer auf und dann höre ich die Matthäuspassion. Die Partitur habe ich bereits wiedergefunden. ;)

    • Was die Bibel betrifft, so ist das heute sehr oft ein Reizwort im Kampf der Weltanschauungen gegeneinander. Während sie für die einen nichts anderes ist als eine literarische Anbaufläche zur Gewinnung von Opium fürs Volk, gilt sie den anderen als einzige wahre Quelle legitimen Wissens, zu der zu bekehren sie sich berufen fühlen.


      Beide Sichtweisen - sofern man bei Verblendungen überhaupt von Sicht sprechen will - verschaffen festen Stand im gesellschaftlichen Kulturkampf um die Religion. An der spezifischen Bedeutung der Bibel für die europäische Geistesgeschichte gehen beide Sichtweisen vorbei. Sie geraten nicht einmal in deren Nähe, weil sie sich einzig auf den Aspekt des Glaubens kaprizieren. Die Neuzeit als Epoche der modernen Naturwissenschaften und der Aufklärung läßt sich ohne die Beschäftgung mit ihrem christlichen und antiken Erbe gar nicht erfassen. Zu diesem antiken Erbe gehört Homer.


      Reichtum und Fülle dieses alteuropäischen Schatzes und seiner Bedeutungs- und Wirkungsgeschichte erschließen sich erst dem, der ausreichend Abstand zu ideologischen Bekenntnissen, gleich welcher Couleur, hat.