Dantes Beatrice und Petrarcas Laura waren platonische Lieben; das Bild, was beide Dichter von ihrer Geliebten zeichnen, ist eines der unerfüllten Sehnsucht. Es gibt für Beatrice und für Laura zwar historische Vorbilder, doch in den Dichtungen hat man es mit poetischen Überhöhungen zu tun, Idealgestalten, engelsgleich, unschuldig, jenseitig.
Das trifft auch für Imaginationen Catulls von seiner Lesbia zu, die er in seinen Gedichten besingt. Wie bei Beatrice und Laura gibt es auch für Lesbia eine historische Entsprechung - vermutlich die griechische Dichterin Sappho - doch bleibt auch dieser Liebe nur die Möglichkeit der poetischen Verklärung.
Ille mi par esse deo videtur,
ille, si fas est, superare divos,
qui sedens adversus identidem te
spectat et audit
dulce ridentem, misero quod omnis
eripit sensus mihi: nam simul te,
Lesbia, aspexi, nihil est super mi,
Lesbia, vocis;
lingua sed torpet, tenuis sub artus
flamma demanat, sonitu suopte
tintinant aures, gemina teguntur
lumina nocte.
Otium, Catulle, tibi molestum est:
otio exultas nimiumque gestis;
otium et reges prius et beastas
perdidit urbes.
Das süße Lachen Lesbias raubt Catull alle Sinne. Sobald er sie anblickt, bleibt von seiner Stimme im Mund nichts mehr übrig. (2. Strophe) Ein Dichter, der angesichts seiner Geliebten verstummt vor Hingabe, kann seine Liebe nur noch in Form der Poesie zum Ausdruck bringen.
Im Gespräch zwischen Melanie Möller und dem Übersetzer Shane Anderson gibt die Altphilologin eine "Spontanübersetzung" der Verse Catulls und im weiteren Verlauf geht es auch um die Musikalität dieser Verse. Sapphos Lyrik wurde noch gesungen, Catull wurde nur noch rezitiert.