Reise ins ewige Blau

„ …Was mir hier vorschwebte, war ungemein schwer zu machen. Stell dir das ununter-

schiedene Himmelsblau vor, das schwieriger zu treffen ist als alle wechselnden und kontrastie-

renden Tinten. Dies ist die Grundstimmung des Ganzen. Nur manchmal verfinstert es sich und

wird spukhaft schauerlich: doch nicht der Himmel selbst ist es, der sich trübt, er leuchtet fort in

ewigem Blau." (Natalie Bauer-Lechner; Erinnerungen an Gustav Mahler; Leipzig 1923)


Adorno hat über Mahlers vierte Sinfonie gesagt, sie sei ein Meisterwerk des "Als-Ob von der ersten bis zur letzten Note". Nahezu alles in dieser Sinfonie ist doppelbödig, ist oft ein Zugleich von kindlicher Phantasie über den Himmel und weltlichem Realismus. Ungewöhnlich ist das Auftreten der Sopranstimme im vierten Satz, die einen Text aus Des Knaben Wunderhorn singt:


Kein weltlich´Getümmel hört man nicht im Himmel!

Lebt alles in sanftester Ruh´!


Mahler spricht von einer Sphäre des "kindhaft einfachen". Erinnerungen an bekannte Kinderlieder flackern auf. Die Vorstellung vom Himmel, das "ewige Blau", hat Züge des Idyllischen und Märchenhaften. Das Gefällige wird dabei immer wieder vom drohenden Unheil kontrastiert, etwa im zweiten Satz ("Freund Hein spielt auf"), in dem die Solovioline um einen Ganzton höher gestimmt ist, was den schaurigen Charakter des Totentanzes hervorhebt. Das Orchesterlied "Das himmlische Leben" im vierten Satz ist dann wieder ein Leitbild für die kindliche Phantasie.


Jean Paul schreibt in der Unsichtbaren Loge: "Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können." Mit der Vierten gewährt Mahler einen Blick durch das Schlüsselloch dieses Paradieses. Am Ende ist es mit dem tiefen E der Kontrabässe ein leises Ersterben, ein Verdämmern, nachdem der Sopran mit "kindlich heiterem Ausdruck" von den himmlischen Freuden gesungen hat.



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Kommentare 2

  • Re „Reise ins ewige Blau“


    Fraglos ein faszinierendes Klangerlebnis. Beinahe nicht von dieser Welt bleibt man versucht unterstreichend hierzu mit anzufügen. Musikwissenschaftler empfehlen jedoch, das Erleben seiner musikalischen Ausdrucksweise, das Wie und Warum daran, über die musikalischen Eindrücke seiner Kindheit als Jude zu begreifen. Der Mahler-Biograf J.-M. Fischer führt hierzu aus:


    „Unverlierbar bleibt die unendlich komplizierte Existenzform des Österreichers böhmischer Regionalprägung, deutscher Sprache und jüdischer Herkunft Mahlers Wesen eingeprägt, und da Wesen und Ausdrucksform des künstlerischen Subjekts untrennbar sind, auch seinem Werk. Alles, was über diese Feststellung an Konkretisierung des Jüdischen in seiner Musik anhand der Partituren hinauszugehen versucht, endet in Dünsten und Dämpfen aus Mahlers Kindheitstraum.“ (vgl. Jens Malte Fischer, 2011, „Gustav Mahler: der fremde Vertraute“)


    Leonard Bernstein ordnete Mahlers künstlerischem Können mal die bewertende Umschreibung ethnic flavour bei und umging es damit, eine Bezugnahme auf dessen Religion zu konstruieren. Man könnte aber Bernstein somit auch derart interpretieren, dass Mahlers Musik und damit vielleicht auch die jüdische Musik an sich, so vielschichtig schön und anteilig entliehen ist, wie sich vergleichsweise ein angenehmer Duft eben auch aus vielen unterschiedlich interessanten Aromen zusammensetzt.


    • Nachsatz: Und womöglich birgt Bauer-Lechners Vergleich mit der ‚Reise ins ewiges Blau‘ auch eine subtil dem angelsächsischen Sprachgebrauch entliehene Anspielung darauf, dass dort die Farbe Blau einem Bedeutungsnarrativ auch zur Melancholie hin gleichkommt; denn an letzterer war Mahlers Leben als Mensch nicht unreich gesegnet, was dieser jedoch als Künstler glänzend verstanden hatte, in dessen Werken ausdruckgeberisch zu instrumentalisieren.