Vor ein paar Tagen veröffentlichte der Tagesspiegel ein Interview mit Francis Fukuyama und der Frage, ob sich seine Ansichten zum Ende der Geschichte und des Siegeszuges der Demokratie angesichts von Wahlprognosen und -ergebnissen hinsichtlich autoritärer oder populistischer Parteien geändert hätten. Im Schlußteil dieses Interviews fügt er hinzu, daß eine liberale Demokratie wohl auf gesellschaftlich einigermaßen homogene Wertvorstellungen angewiesen sei (den genauen Wortlaut kann ich leider nicht mehr beisteuern, da der Artikel inzwischen hinter die Paywall geschoben wurde; im Wikipedia-Artikel zum Thema wird immerhin ein "homogenes Volk" als Voraussetzung für die Demokratie genannt, was ich etwas mißverständlich finde, da man das "homogene Volk" ja auch in materieller oder biologischer Hinsicht verstehen könnte).
Mir gab diese Formulierung zu denken, zumal ich gerade den Aufsatz Die demokratische Regression (Armin Schäfer, Michael Zürn, Surkamp 2749) gelesen hatte. Dort wird eine innere Gefährdung der Demokratie durch Populisten unter anderem in der Weise behauptet, daß diese "zur Untergrabung ungeschriebener Gesetze führen kann, die entscheidend für das Funktionieren der Demokratie sind. ... Die herausfordernde [populistische] Partei bricht Tabus; ... Es kommt zu einer Emotionalisierung, die zu einer zusätzlichen Eskalation und Radikalisierung von Zielen beiträgt. Im Ergebnis gefährdet das die informellen Praktiken einer Demokratie." (S. 180)
Ich hatte den Aufsatz von Schäfer und Zürn zuerst gelesen und zunächst darüber nachgedacht, ob solche "informellen Praktiken" nicht im Sinne der Rechtsstaat-Idee abzulehnen wären, weil sie einerseits nicht allen Menschen unbedingt zugänglich sind, vielmehr diese zur Teilhabe die gesellschaftlichen Codes kennen müßten (vergleiche Bourdieus Gedanken zum Habitus), und als ungeschriebene wie wohl auch meist unausgesprochene Gesetze leichter der Willkür anheimfallen können als kodifiziertes Recht.
Die Worte Fukuyamas haben mich dann wanken machen. Nach einiger Hintergrundrecherche habe ich zunächst meine Vermutung bestätigt gefunden, daß sein Freiheitsbegriff für die liberale Demokratie eher dem der Selbstentfaltung im Rahmen des gesellschaftlich Erlaubten entspricht. Damit wird seine Aussage leicht nachvollziehbar. Ein Gesetz gegen das Wegnehmen von Sachen aus einer fremden Wohnung ist unnötig, wenn sich alle Bürger einig sind, dies nicht zu tun - oder wenn sich alle einig sind, daß dieses Verhalten in Ordnung ist (und sich jeweils auch entsprechend verhalten).
Von daher betrachte ich die demokratische Regression im Sinne Fukuyamas zunächst eher als Abkehr vom Liberalismus als von der Demokratie - dem Liberalismus, der sich buchstäblich zwanglos aus der relativen Wertehomogenität ergibt (Beispiel wegnehmen aus Wohnungen). Um aus abweichenden Wertvorstellungen beziehungsweise daraus entstehenden Handlungen rührende gesellschaftliche Konflikte zu bändigen, sehe ich zwei Möglichkeiten:
- informelle soziale Kontrolle, wie sie wohl Schäfer und Zürn mit den Tabus im Sinne haben; früher oft in Formeln gekleidet wie "das macht man nicht", "was sollen die Leute denken" etc.
- offene Unterdrückung beziehungsweise Erzwingen von konformen Verhalten
Tatsächlich wird bei Schäfer und Zürn die Rede von Viktor Orban zur "christlichen Demokratie" auch als Musterbeispiel für autoritären Populismus angeführt (Anfang Kapitel 6). Könnte man als Summe unterm Strich ableiten, daß die Freiheit in der liberalen Demokratie nur bestehen kann, solange sie nur in eher begrenztem Maße genutzt wird?