Ich habe in den letzten Tagen über "Beobachter" nachgedacht, die Gedanken sind nicht abgeschlossen, bin auch immer noch in der Recherche, aber möchte das hier schon mal als Thread eröffnen und ein paar Gedankengänge zum kritisieren oder kommentieren mitteilen.
Es scheint mehr oder weniger Konsens zu geben, dass die ganzen Paradoxien in direktem Zusammenhang mit dem Konzept des Beobachters stehen. Das schreibt zum Beispiel Varela in seinem oft zitierten Aufsatz "A Calculus for Self-Reference" oder auch in dem kürzlich angesprochenen Aufsatz "Spencer Brown, Luhmann and Autology" wird das so dargestellt. Ich bin mir eigentlich auch sicher, dass ich eine entsprechende Aussage von Luhmann gelesen habe, finde aber momentan die Stelle nicht mehr.
Das Konzept des Beobachters ist also ganz entscheidend, vielleicht "übertrahlt" es sogar die ganze Theorie:
Macht man in "Einführung in die Systemtheorie" oder"Soziale Systeme" eine Textsuche zu Theoriebegriffen wie "strukturelle Kopplung", "Autopoiesis" u.A. sind die tendenziell in Regionen des Textes gehäuft, sowieso natürlich wenn es gleichnamige Kapitel gibt. "Beobachter" hingegen ist eher gleichverteilt, kommt quasi überall vor und durchzieht in diesem Sinne die ganze Theorie.
Bei Spencer Brown hat man ja den, zum Beispiel in "Die Schrift der Form", dargestellten intuitionistischen Aspekt, dass die Demonstration gewissermassen den Beweis ersetzt: "Draw a distincition!", also eine Aufforderung. Es wird implizit demonstriert, dass man selber die Rolle des Beobachters einnimmt - man selbst in der Rolle des Beobachters markiert die Unterscheidung. Für Spencer Brown ist dann eine Beobachtung mit der Unterscheidung identisch:
Zitat von LoF (S.76)We see now that the first distinction, the mark, and the observer are not only interchangeable, but, in the form, identical.
Luhmann folgt dem gewissermassen:
Zitat von GdG (S.69)Mit dem Begriff Beobachten wird darauf aufmerksam gemacht, daß das »Unterscheiden und Bezeichnen« eine einzige Operation ist; denn man kann nichts bezeichnen, was man nicht, indem man dies tut, unterscheidet, sowie auch das Unterscheiden seinen Sinn nur darin erfüllt, daß es zur Bezeichnung der einen oder der anderen Seite dient (aber eben nicht: beider Seiten). In der Terminologie der traditionellen Logik formuliert, ist die Unterscheidung im Verhältnis zu den Seiten, die sie unterscheidet, das ausgeschlossene Dritte.
[...]
Der Beobachter ist das ausgeschlossene Dritte seines Beobachtens.
Also die Unterscheidung selbst ist das ausgeschlossene Dritte und dieses wiederum ist der Beobachter (und mit dem ausgeschlossenen Dritten hat man wiederum Anschluss zum oben bereits angesprochenen Intuitionismus (*)) - mit dem kleinen Umweg über "ausgeschlossenens Drittes" also wie bei Spencer Brown Unterscheidung=Beobachter.
Bei Luhmann scheint mir das aber noch komplexer und auch cleverer zu sein, wie bei Spencer Brown (ich muss aber ehrlich gesagt LoF unbedingt nochmals lesen, vielleicht tu ich ihm da unrecht (!)). Denn irgendwie ist das ja schon merkwürdig, "draw a distinction!" wird der Beobachter aufgefordert und aber dann erklärt, dass er ja selbst mit Unterscheidung identisch sei. Er kommt so - nach meinem Empfinden - aus irgendeinem dunklen, nicht-fassbaren Ort in die Welt gezaubert ohne weitere Erläuterung.
Luhmann geht das clevererweise ja mit "Sinn" und der Medium/Form Unterscheidung an, er muss ja auch das Problem lösen, dass Kommunikation (und - operativ abgeschlossen - da gibt es ja kein interagierendes Bewusstsein, was man glaube ich sofort mit Beobachter assoziieren möchte) ebenfalls eine beobachtende Operation ist, denn bekanntlich ist Kommunikation ja ein Sinnsystem und:
Zitat von GdG (S.45)Psychische und soziale Systeme bilden ihre Operationen als beobachtende Operationen aus, die es ermöglichen, das System selbst von seiner Umwelt zu unterscheiden - und dies obwohl (und wir müssen hinzufügen: weil) die Operation nur im System stattfinden kann.
Kommunikation ist also eine beobachtende Operation. Mit Sinn und der Form/Medium Unterscheidung kann man das Konzept des Beobachter (und ich verstehe das in diesem Zusammenhang so, dass er das eben von Bewusstsein, einem "sinntragenden oder sinngebenden Subjekt", trennen will) erstmal umgehen:
Zitat von Einführung in die Systemtheorie (S.225)Mein nächster Versuch, einen Sinnbegriff ohne eine bestimmte Systemreferenz, ohne eine bestimmte ontologische Referenz zu formulieren, liegt in der Benutzung der Unterscheidung von Medium und Form.
Zitat von Einführung in die Systemtheorie (S.225f)... die Beziehung dieser Unterscheidung zur Systemtheorie nicht unproblematisch ist und weil ich gerade das ausnutzen möchte, um über Sinn im Sinne eines Verhältnisses von Medium und Form zu sprechen, und dabei noch nicht voraussetzen möchte, welches System operiert, um Sinn zu konstituieren, Sinn zu erleben, Sinn zu erfahren, Sinn zu reproduzieren usw. Der Vorteil dieser Unterscheidung von Medium und Form ist, dass man nicht ohne weiteres auf ein Subjekt, einen Sinnträger verwiesen wird, sondern sich Sinn zunächst einmal ganz abstrakt vorstellen und an der Begrifflichkeit selbst arbeiten kann, die uns darüber Klarheit verschafft, wie das Verhältnis von Medium und Form zu denken ist.
Soweit ich das verstehe, will er insgesamt den Beobachter im Sinne eines "beobachtenden Bewusstsein" eliminieren (muss man ja, soweit ich das sehe, für Kommunikation) und über Medium/Form + Sinn rein abstrakt einführen (**), was ich, wenn ich das soweit richtig verstehe, für unglaublich elegant hielte und mir einen völlig neuen Blick auf sein Konzept "Sinn" liefern würde. Um das dann zu verwirklichen und zu System/Umwelt in Verbindung zu bringen, steht das in direktem Zusammenhang mit der Ausbildung der Selbst- und Fremdreferenz, dazu käme ich dann später noch.
(*): Das ausgeschlossene Dritte ist die eine Verknüpfung, die angesprochene Spencer Brown-Aufforderung, "Draw...!", an den Beobachter die andere direkte Verbindung (Demonstration/Erfahrung statt Beweis):
Zitat von Schlüsselwerke des Konstruktivismus (S.172)Entscheidend ist, dass, so Brouwer, nur mit dem gerechnet werden kann, was in der Erfahrung eines Beobachters – des „idealen Mathematikers“ – erzeugt wird.
EDIT:
(**) (fett von mir):
Zitat von Einführung in die Systemtheorie (S.225)Das sagt noch nichts über die Fragen, was denn nun Sinn eigentlich ist, wie wir Sinn definieren wollen und wie wir den Begriff fassen wollen, sondern zeigt zunächst einmal eine Schwierigkeit auf, die darin besteht, dass uns das Subjekt abhanden gekommen ist oder, wenn man das so ausdrücken will, eine ontologische Instanz, irgendjemand, auf den wir Sinnkonstitution beziehen können, der es tut, der es leistet, dem es zurechenbar ist, den man vielleicht kennen muss, um zu wissen, was für ihn Sinn ist, irgendeine Seinshaftigkeit im Hintergrund, und seien es nur gewisse Regeln der Sinnkonstitution, die a priori, also für alle empirischen Subjekte, gelten würden. Wenn Sie diesen Theoriezug mitmachen, dass man scharf zwischen Bewusstsein und Kommunikation trennt - auf diese Frage komme ich in einem späteren Teil der Vorlesung zurück -, dann entwurzelt das in gewisser Weise den Sinnbegriff insofern, als wir dann keine Adresse mehr haben, keinen Beobachter, den wir beobachten können, sondern zwei verschiedene Dinge, nämlich Bewusstsein einerseits und soziale Kommunikation andererseits.