Gedanken zur Sterbehilfe-Abstimmung

  • Ich habe längere Zeit überlegt, wie ich das Thema angehe und in welches Unterforum ich es einsortiere. Am vergangenen Donnerstag gab es im Bundestag eine fraktionsfreie Abstimmung über zwei Gesetzentwürfe zur Sterbehilfe, einen eher restriktiven und einen liberaleren. Beide Entwürfe erreichten nicht die notwendige Mehrheit.


    Als ich Äußerungen zum Thema las wie "froh, dass der Vorschlag von Castellucci mit der Regelung im Strafrecht nicht durchgekommen sei" (Renate Künast) oder früher "Ich verhehle nicht, dass ich die Entscheidung (des Bundesverfassungsgerichts) insgesamt bedauere. Ich glaube, dass sie ... geeignet ist, einer gesellschaftlichen Entwicklung hin zu einer Normalisierung des Selbsttötung als Handlungsoption den Weg zu bereiten" (Hermann Gröhe), kam mir der Gedanke: möglicherweise ist die Nicht-Entscheidung am Donnerstag ja tatsächlich die einzig gesellschaftlich tragbare Lösung?


    Wir werden hier im Forum die Frage nach Legitimität der Sterbehilfe nicht beantworten und uns höchstens darüber erbittert streiten können; deshalb möchte ich nur etwas "leichteres" ansprechen: Auf die politische Praxis gerichtet, scheint mir dieses Thema als so brisant, daß der Preis für eine "offizielle" gesetzliche Regelung zu hoch sein könnte, nämlich die Erschütterung des sozialen Friedens. ARD Panorama schrieb so zutreffend "Kaum ein Thema wird so intensiv und emotional diskutiert. Höchste Gerichte haben sich jahrelang damit befasst. Weltanschauungen und Werte prallen aufeinander." Wäre dieses Aufeinanderprallen in einer offenen Diskussion vielleicht schlimmer als ein andauernder Graubereich?


    Dazu kommt in meinem Kopf ein weiterer Aspekt: im Rahmen der Diskussion hat sich die Stiftung Patientenschutz mehrfach mit der Bemerkung eingeschaltet, "Psychotherapie und Würde wahrende Pflege seien für viele sterbenskranke, lebenssatte oder psychisch kranke Menschen oft unerreichbar." und Verbesserungen gefordert. Wenn ich zum Beispiel aktuelle Berichte des Tagesspiegel zu anstehenden Berliner kommunalen Sparplänen daneben lege, so scheinen mir die erwarteten Entwicklungen geeignet, eher noch mehr Menschen zu einer Verzweiflung zu bringen, die möglicherweise im Suizid endet. Vermutlich wird auch da politisch nicht so heiß gegessen wie gekocht, aber ich glaube, annehmen zu dürfen, daß unter diesen Vorzeichen Forderungen wie die der Stiftung schlicht aussichtslos sind.


    Nach langem Grübeln bin ich nur bis zu dem - persönlich etwas deprimierenden - Punkt gekommen: ich bin froh, daß ich am Donnerstag nicht mit abstimmen mußte/konnte.

  • Ich lebe momentan in einer Pflegeeinrichtung in Österreich und finde, dass man als sozial abgelehnter, nicht integrierbarer, ständig unzureichender, mit Sterbehilfe besser dran ist.


    Auch wenn ich sehr sehr glücklich bin da ich mir weis machen kann ich hätte einen großen intellektuellen Erfolg und besondere Fähigkeiten, wird das Glück mit der Liebe eher diejenigen erreichen, die gesellschaftlich besser situiert sind.


    Und ein Glück, dass nicht geteilt wird, ist auf Dauer auch nicht so lebenswert.


    Außerdem habe ich schon sehr lange mit dem Leben abgeschlossen.

    Ich sehe aber keinen Bedarf für Suizid, da ich weiß was zu tun ist, um stabil und glücklich zu sein.


    Leicht zugänglicher assistierter Suizid, würde für mich ein baldiges Ende bedeuten.


    Nicht weil ich sterben will, sondern weil ich genug gelebt habe und davon müde, also Lebensmüde bin.


    Ohne Frau und Kinder, gibt es eben nicht so den halt. Da ist es Kraut und Rüben, ob ich überhaupt lebe.


    Deshalb verstehe ich, dass man vielerorts keine Sterbehilfe möchte.

    Wenn dann Menschen sterben, denen es scheinbar an nichts fehlt, fehlt da schnell Mal die Toleranz/Akzeptanz.


    Gerne aufgeben und dem Tod ohne Verlust ins Auge blicken wollen, eine Sünde?

    Zwischen den Zeichen, die wir setzen, liegen die Grenzen, die sie verschieben.

  • möglicherweise ist die Nicht-Entscheidung am Donnerstag ja tatsächlich die einzig gesellschaftlich tragbare Lösung?

    Das habe ich auch schon überlegt.

    Auf die politische Praxis gerichtet, scheint mir dieses Thema als so brisant, daß der Preis für eine "offizielle" gesetzliche Regelung zu hoch sein könnte, nämlich die Erschütterung des sozialen Friedens. ARD Panorama schrieb so zutreffend "Kaum ein Thema wird so intensiv und emotional diskutiert. Höchste Gerichte haben sich jahrelang damit befasst. Weltanschauungen und Werte prallen aufeinander." Wäre dieses Aufeinanderprallen in einer offenen Diskussion vielleicht schlimmer als ein andauernder Graubereich?

    Ich glaube weniger, dass hier - immer noch - Weltanschauungen aufeinander prallen. Das Gros der Bevölkerung wünscht - soweit ich informiert bin - eine Regelung der Sterbehilfe. Und das Verfassungsgericht hat das Recht auf Sterbehilfe anerkannt. Die Schwierigkeiten liegen in der Umsetzung, wobei v. a. ausgeschlossen werden soll, dass der Wunsch nach Sterbehilfe aus einer vermeidbaren Notlage oder einer psychischen Ausnahmesituation heraus geäußert wird.

    Wenn ich zum Beispiel aktuelle Berichte des Tagesspiegel zu anstehenden Berliner kommunalen Sparplänen daneben lege, so scheinen mir die erwarteten Entwicklungen geeignet, eher noch mehr Menschen zu einer Verzweiflung zu bringen, die möglicherweise im Suizid endet. Vermutlich wird auch da politisch nicht so heiß gegessen wie gekocht, aber ich glaube, annehmen zu dürfen, daß unter diesen Vorzeichen Forderungen wie die der Stiftung schlicht aussichtslos sind.

    Es gibt in unserer Gesellschaft viele Menschen, die mit ihrer Lebenssituation sehr unzufrieden sind. Vor allem alte, gebrechliche und dann vielleicht auch noch einsame Menschen hat oft schon lange der Lebensmut verlassen. In vielen Altenheimen vegetieren Menschen "menschenunwürdig" dahin. Man stelle sich einmal hypothetisch vor, die würden jetzt alle Sterbehilfe beantragen. Und auch die Palliativversorgung auf die bei unheilbaren schmerzhaften Erkrankungen immer gerne verwiesen wird, steht nicht jedem zur Verfügung.

    Das stört doch keinen großen Geist (Karlsson vom Dach) 8)

  • Es gibt in unserer Gesellschaft viele Menschen, die mit ihrer Lebenssituation sehr unzufrieden sind. Vor allem alte, gebrechliche und dann vielleicht auch noch einsame Menschen hat oft schon lange der Lebensmut verlassen. In vielen Altenheimen vegetieren Menschen "menschenunwürdig" dahin. Man stelle sich einmal hypothetisch vor, die würden jetzt alle Sterbehilfe beantragen. Und auch die Palliativversorgung auf die bei unheilbaren schmerzhaften Erkrankungen immer gerne verwiesen wird, steht nicht jedem zur Verfügung.

    Ja, und angesichts der auseinandergehenden Schere zwischen immer mehr alten Menschen und immer weniger Pflegekräften wird diese Situation auch nicht besser.

    Es wäre gut, beim ersten Satz anzusetzen und die Lebenssituation zufriedener zu machen.

    Ich glaube, dass da über die EInbindung älterer Menschen in freilwillige Tätigkeiten, die ihrem Leben Sinn geben, eine Vielzahl kleiner, nicht komerzieller Wohnprojekte und einer Besinnung auf gemeinsame Ziele und Werte von Alt und Jung viel zu holen wäre.


    Sterbehilfe selber. In der Tat ein schwieriges Thema. Bin in ausgewählten Fällen dafür, solange man der Versuchung widersteht, daraus ein Geschäft zu machen. Aber den Wert des Lebens zu preisen und andererseits nichts gegen Einsamkeit, Verwahrlosung und Pflegenotstand zu tun, ist einer der Selbstwidersprüche unserer Gesellschaft.

    "It's not that I don't like them, I really hate them." (Eine Ukrainerin)

  • Es wäre gut, beim ersten Satz anzusetzen und die Lebenssituation zufriedener zu machen.

    Ja natürlich. Es wird ja auch immer wieder von der Politik behauptet, dass das genau die Alternative zur Sterbehilfe wäre. Aber es wird halt nicht genug getan.

    Sterbehilfe selber. In der Tat ein schwieriges Thema. Bin in ausgewählten Fällen dafür

    Ich bin da schon etwas grundsätzlicher dafür. Im Sinne der letzten Autonomie eines Menschen. So wie das Verfassungsgericht das auch sieht. Aber gerade diese Diskussion, wollte Aktenordner wohl verhindern.

    Wir werden hier im Forum die Frage nach Legitimität der Sterbehilfe nicht beantworten und uns höchstens darüber erbittert streiten können; deshalb möchte ich nur etwas "leichteres" ansprechen:

    Das stört doch keinen großen Geist (Karlsson vom Dach) 8)

  • [...] Wenn ich zum Beispiel aktuelle Berichte des Tagesspiegel zu anstehenden Berliner kommunalen Sparplänen daneben lege, so scheinen mir die erwarteten Entwicklungen geeignet, eher noch mehr Menschen zu einer Verzweiflung zu bringen, die möglicherweise im Suizid endet. [...]

    Ja, die Politiker haben ganz offensichtlich weniger Probleme damit, Gesetze zu beschließen, die die Bürger ruinieren und möglicher Weise in den Suizid "treiben", als dafür zu sorgen, dass der Freitod, bzw. die Sterbehilfe gesetzlich geregelt wird und dadurch nicht so "schmutzig" sein muss.


    Die letzten offiziellen Zahlen über die Suizide in Deutschland, die ich gefunden habe, sind aus dem Jahr 2021, in dem sich 9215 Menschen das Leben genommen haben. Das sind mehr als 25 pro Tag, also mehr als einer jede Stunde und viele davon wählen die besonders "schmutzige" Variante, sich auf die Gleise zu stellen, unter der vor allem die Lockführer in Mitleidenschaft gezogen werden.


    Die hohe Zahl der Suizide in Deutschland zeigt auf, dass man sie durch die Nichtregulierung der Sterbehilfe nicht etwa verhindert, sondern es den verzweifelten Menschen nur erschwert, sich auf eine "humanere" Weise das Leben zu nehmen. Deshalb wäre es wohl sinnvoll, die Sterbehilfe gesetzlich zu regeln, allerdings so gut durchdacht, dass sie nicht missbraucht werden kann.

  • Ja natürlich. Es wird ja auch immer wieder von der Politik behauptet, dass das genau die Alternative zur Sterbehilfe wäre. Aber es wird halt nicht genug getan.

    Einer der Gründe, warum mich Politik so semi begeistert.

    Ich bin da schon etwas grundsätzlicher dafür. Im Sinne der letzten Autonomie eines Menschen. So wie das Verfassungsgericht das auch sieht. Aber gerade diese Diskussion, wollte Aktenordner wohl verhindern.

    Gut, ein etwas seltsames Motiv, aber im eigenen Thread hat man ja gewissermaßen das Hausrecht.

    "It's not that I don't like them, I really hate them." (Eine Ukrainerin)

  • Einer der Gründe, warum mich Politik so semi begeistert.

    ich muss lachen..

    aber, ich begeistere mich auch gar nicht für politik.

    es verhält sich zur zeit eher so, das sie einen dämon in mir zu wecken scheint!


    aber ich guck einfach nich mehr (freiwillig) hin, nur noch über ecken, vorgefiltert ...

    vielleicht is alles ganz anders...

  • Ich bin da schon etwas grundsätzlicher dafür. Im Sinne der letzten Autonomie eines Menschen. So wie das Verfassungsgericht das auch sieht. Aber gerade diese Diskussion, wollte Aktenordner wohl verhindern.

    Ja, das hast Du richtig verstanden. Ich habe keineswegs etwas dagegen, das grundsätzliche für und wider der Sterbehilfe zu diskutieren, aber dann bitte in einem eigenen Thread, falls es nicht schon einen gibt. Sonst rechne ich nämlich damit, daß meine Eingangsfrage unter der "Grundsatzdiskussion" untergeht.


    Ja, die Politiker haben ganz offensichtlich weniger Probleme damit, Gesetze zu beschließen, die die Bürger ruinieren und möglicher Weise in den Suizid "treiben", als dafür zu sorgen, dass der Freitod, bzw. die Sterbehilfe gesetzlich geregelt wird und dadurch nicht so "schmutzig" sein muss.

    Ich hatte auch schon öfters den Gedanken, daß sich etliche Politiker zwar unbedingten Lebensschutz auf die Fahnen geschrieben haben, das Thema Lebensqualität aber völlig ignorieren beziehungsweise jeden Anspruch auf ein Mindestmaß derselben verneinen. In der Corona-Pandemie fand ich das teils überdeutlich. Herr Lauterbach, der nach meinem Eindruck öfters recht "unpolitisch" auch Dinge ausspricht, über die ein "gestandener Politiker" sorgsam schweigen würde, erklärte in Hinsicht auf die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf Kinder rückblickend: "Es gab ein viel zu geringes Interesse, irgendetwas für die Kinder zu machen." (Quelle). Das gilt sicher auch für andere gesellschaftliche Gruppen.

  • [...] Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf Kinder rückblickend: "Es gab ein viel zu geringes Interesse, irgendetwas für die Kinder zu machen." (Quelle). Das gilt sicher auch für andere gesellschaftliche Gruppen.

    Ja, die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen waren fatal und nicht nur für die Kinder. Ich kenne jedenfalls auch einige Erwachsene, die sich bis heute noch nicht davon erholt haben und zwar sowohl was ihre seelische Verfassung betrifft, als auch was ihre körperliche Gesundheit betrifft.

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