Zur Grenze der Demokratie

  • Ich vermute, daß es für meine Frage schon "Standardantworten" gibt, und wäre erfreut, wenn mir jemand ein paar Stichwörter dazu geben könnte. Im Sterbehilfe-Abstimmungs-Thread warf Tauwetter einen interessanten Punkt auf:

    Das Gros der Bevölkerung wünscht - soweit ich informiert bin - eine Regelung der Sterbehilfe. Und das Verfassungsgericht hat das Recht auf Sterbehilfe anerkannt.

    Ich interpretiere das so, daß das "Gros der Bevölkerung" eine Regelung der Sterbehilfe wünscht, die diese zumindest in Teilen möglich macht, wenigstens ein Teil der Bundesregierung diesen Wunsch aber zurückweist. Eine ähnliche Situation sehe ich zum Beispiel auch in der Frage der Cannabis-Legalisierung, die Umfragen zufolge von einer Bevölkerungsmehrheit begrüßt, aber von größeren Teilen der Politik abgelehnt wird.


    Da überlege ich mir: wenn ich naiv davon ausgehe, daß Demokratie - Volksherrschaft - in erster Näherung zu solchen gesellschaftlichen Normen (Gesetzen) führt, die dem Willen der Bevölkerungsmehrheit entsprechen, wie wird dann gerechtfertigt, daß sich der Gesetzgeber über den Volkswillen hinwegsetzen darf, ja in einigen Fällen sogar müßte? Die Frage kam mir zuletzt sehr drastisch vor Augen nach Berichten über das Anti-Homosexuellen-Gesetz in Uganda; die Darstellung der Tagesschau interpretiere ich so, daß sowohl die dortige Regierung wie auch die dortige Bevölkerungsmehrheit das Gesetz befürworten (mit Todesstrafe für Homosexualität etc.).


    Woran wird nun festgemacht, daß und welche bestimmte normative Fragen "nicht zur Disposition" stehen? Mein erster Gedanke ging zu den "moralischen Tatsachen" von Markus Gabriel, also die Legitimierung einer solchen finalen Entscheidung durch die Intution des jeweiligen Normgebers, der die Entscheidung dann auch immunisieren könne. Aber würde das nicht in letzter Konsequenz auf das Ende jeder Demokratie hinauslaufen, wenn sämtliche moralisch relevanten Gesetze/sozialen Normen durch moralische Tatsachen entschieden würden? Gabriel schrieb einmal sinngemäß, wenn vollständige moralische Erkenntnis möglich wäre, wäre unmoralisches Verhalten unmöglich. Blieben dann für das politische Tagesgeschäft letztendlich nur amoralische Fragen übrig, wie die sprichwörtliche Frage, ob der Fahrradständer rot oder blau gestrichen werden soll?


    Anders und kürzer gefragt: wenn es eine Instanz gibt, die die "wirklich wichtigen" Fragen "richtiger" als eine Volksabstimmung oder eine Regierung beantworten kann, wäre es dann möglich, dieser sämtliche politischen Entscheidungen zu übertragen? Wie sähe dies aus?


    (In Wikipedia habe ich nach einigem Suchen immerhin die für mich einleuchtende Formulierung gefunden, daß eine solche Legitimation notwendigerweise "von außen" kommen müsse: "Die Legitimation für die Existenz eines Staates und seiner jeweiligen Verfassung, zum Beispiel einer demokratischen, kann daher nur von Seiten der Philosophie kommen." Da fand ich dann nicht mehr weiter.)

  • Ich interpretiere das so, daß das "Gros der Bevölkerung" eine Regelung der Sterbehilfe wünscht, die diese zumindest in Teilen möglich macht, wenigstens ein Teil der Bundesregierung diesen Wunsch aber zurückweist

    So ist es meines Wissens nicht. Die Mehrheit der Parlamentarier unterstützt eine Regelung bzw. ist per Auftrag des Verfassungsgerichts verpflichtet, eine Regelung zu finden. Es standen jedoch zwei unterschiedliche Regelungen zur Auswahl, von denen keine eine Mehrheit bekommen hat und deshalb haben wir jetzt auch noch keine und es muss weiter gesucht werden. Demokratische Spielregeln sehe ich da nicht verletzt. Außerdem haben wir eine parlamentarische und keine direkte Demokratie. Da kann es immer vorkommen, dass das Parlament anders entscheidet als es der je aktuellen Bevölkerungsmeinung entspricht.

    Das stört doch keinen großen Geist (Karlsson vom Dach) 8)

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  • Anders und kürzer gefragt: wenn es eine Instanz gibt, die die "wirklich wichtigen" Fragen "richtiger" als eine Volksabstimmung oder eine Regierung beantworten kann, wäre es dann möglich, dieser sämtliche politischen Entscheidungen zu übertragen? Wie sähe dies aus?

    Theoretisch ist alles möglich. Im Laufe der Menschheitsgeschichte wurden schon verschiedene Modelle der gesellschaftlichen Organisation erprobt, aber meiner Meinung nach existieren keine objektiven Kriterien um festzustellen, welche davon die beste ist. Ich vermute, dass es in dieser Frage nie zu einem allgemeinen Konsens kommen wird, es scheint vielmehr eine Frage des persönlichen Glaubens.


    Übrigens gibt es auch "richtig" und "falsch" keine objektiven Werte.

    2 Mal editiert, zuletzt von Brandon ()

  • Da überlege ich mir: wenn ich naiv davon ausgehe, daß Demokratie - Volksherrschaft - in erster Näherung zu solchen gesellschaftlichen Normen (Gesetzen) führt, die dem Willen der Bevölkerungsmehrheit entsprechen, wie wird dann gerechtfertigt, daß sich der Gesetzgeber über den Volkswillen hinwegsetzen darf, ja in einigen Fällen sogar müßte

    Eine Rechtfertigung kann ich nicht liefern, ich frage mich aber, ob es reiner Zufall ist, dass die direkte Demokratie zur Zeit in keinem Land der Welt praktiziert wird.

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  • Brandon : Ich tendiere tatsächlich zunehmend in die Richtung, daß die Frage, welche gesellschaftlichen Normen in einer Demokratie einem Änderungswillen des Volkes entzogen sein sollen, letztendlich in eine Glaubensfrage mündet. Sehr eindrücklich fand ich heute einen Kommentar in der Tagesschau zur Trump-Anklage:

    Man stelle sich einmal vor, das Ganze würde in Deutschland passieren: Der Spitzenkandidat einer Partei erklärt sinngemäß schon vor der Bundestagswahl, dass er das Ergebnis nur akzeptieren werde, wenn er der Sieger ist. ...

    Unvorstellbar? Natürlich. Weil Deutschland ein ganz anderes Wahlsystem hat und zum Beispiel die Kanzlerinnen und Kanzler nicht direkt gewählt werden. Unvorstellbar ist es aber auch, weil es ganz einfach unvorstellbar ist, dass in einer alten westlichen Demokratie jemand das Kerngeschäft der Demokratie angreift und zerstört: nämlich den ordnungsgemäßen Ablauf von Wahlen.

    Abgesehen davon, daß nach meiner Erinnerung vor der entscheidenden Abstimmung zu "Stuttgart 21" zumindest einzelne Vertreter beiden Parteien (pro/contra) erklärten, nur ein Abstimmungsergebnis zu akzeptieren, welches in ihrem Sinne ausfiele, fand ich besonders charakteristisch, wie Frau Brand hier von einem "unvorstellbaren" Ereignis spricht. Mir scheint, daß sie hier weniger auf mangelnde Phantasie abstellt als darauf, daß man einen solchen Fundamentalangriff noch nicht einmal denken könne, so furchtbar wäre er. Ich mußte an einen Radiobericht vor etlichen Jahren denken, in dem ein Pfarrer anläßlich einer Hostienschändung erklärte: "ich würde für den Schutz des Leibes Christi mein Leben einsetzen". Ich glaube, für ihn wäre jene Tat auf ähnliche Weise unvorstellbar.


    Vielleicht landen wir bei der Letztbegründung der Demokratiegrenzen schließlich bei einer Zivilreligion, die nach der Wikipedia-Darstellung ja nicht unbedingt einen personifizierten Gottesbegriff aufweisen müßte. Wenn man zum Beispiel bereit ist, die Menschenwürde des Grundgesetzes als Allerheiligstes - im Sinne von: Unantastbar(st)es - aufzufassen, dessen Status keiner Begründung bedarf, sondern offensichtlich ist, dann scheint mir eine Parallelenziehung möglich.


    Ausgehend von der Wikipedia-Darstellung zu Robert Bellah ("Zivilreligion als "der religiöse Anteil einer politischen Kultur verstanden, der ... notwendig ist, damit ein demokratisches Gemeinwesen funktioniert") könnte man direkt nachsinnen, ob nicht jedes organisierte Gemeinwesen, das über persönliche Beziehungen hinausgeht, zwangsläufig eines religiösen Fundaments bedarf, wenn es nicht eine reine Gewaltherrschaft sein soll.

  • Wenn man zum Beispiel bereit ist, die Menschenwürde des Grundgesetzes als Allerheiligstes - im Sinne von: Unantastbar(st)es - aufzufassen, dessen Status keiner Begründung bedarf, sondern offensichtlich ist, dann scheint mir eine Parallelenziehung möglich

    Menschenwürde müsste natürlich spezifiziert werden, v. a. müsste sie Freiheit und Gleichheit der Menschen garantieren und das müsste dann auch noch weiter spezifiziert werden (Gleichheit vor dem Gesetz, Wahlrecht, Meinungsfreiheit, Garantie körperlicher Unversehrtheit.........).


    Eine so verstandene Menschenwürde sehe ich als Grundlage jeder wirklich demokratischen Verfassung. Ich denke, dass diese Rechte garantiert sein müssen, um Gewaltfreiheit unter Menschen möglichst sicher zu stellen. Das Ermöglichen eines "gewaltfreies Zusammenleben" wäre aus meiner Sicht das übergeordnete Ziel einer demokratischen Verfassung. Das wäre nichts "Heiliges"; es würde sich vielmehr um die impliziten Voraussetzungen dessen handeln, was Demokratie will. Die gesicherte Handlungsfreiheit jedes Individuums ist geradezu die Voraussetzung demokratischer Prozesse.


    Ich würde diese "unantastbaren" Voraussetzungen einer wirklich demokratischen Verfassung auch nicht als "zivilreligiös" bezeichnen, denn lt. Wikiartikel können alle "Identität und Akzeptanz schaffenden Anteile einer Kultur" die Funktion einer Zivilreligion übernehmen. Diese Definition würde auch auf Gesellschaften zutreffen, die Teilgruppen ihrer Mitglieder die gleichberechtigte Teilhabe verwehren, z. B. rassistische Gesellschaften. Werden einigen Mitgliedern der Gesellschaft Rechte verwehrt (z. B. kein Wahlrecht für Schwarze, Frauen, Andersgläubige.....) ist die Gewaltfreiheit gefährdet.


    Der Vollständigkeit halber: Es gibt natürlich jede Menge Scheindemokratien auf der Welt, also Gesellschaften, die von sich behaupten demokratisch zu sein ohne Freiheit und Gleichheit ihrer Mitglieder zur Voraussetzung zu machen. Diese Gesellschaften sind dann auch "relativ unfriedlich".

    Das stört doch keinen großen Geist (Karlsson vom Dach) 8)

  • Theoretisch ist alles möglich. Im Laufe der Menschheitsgeschichte wurden schon verschiedene Modelle der gesellschaftlichen Organisation erprobt, aber meiner Meinung nach existieren keine objektiven Kriterien um festzustellen, welche davon die beste ist. Ich vermute, dass es in dieser Frage nie zu einem allgemeinen Konsens kommen wird, es scheint vielmehr eine Frage des persönlichen Glaubens.

    Man muss die biologische Evolutionstheorie als Vorbild nehmen. Aus diesem Grund spreche ich öfters mal von einer funktionalen Gesellschaft als Ziel anstatt die Moral zu heiligen. Wie du richtig sagtest, wurden schon viele Gesellschaftsformen ausprobiert, manche davon haben sich bewährt, manche haben sich als Flopp herausgestellt. Z.B. der Sozialismus, der aber seltsamerweise immer wieder von vielen favorisiert wird. Vermutlich weil er scheinbar einige tiefe psychologische Grundbedürfnisse triggert, z.B. Neid, der dann hochtrabend als Gerechtigkeit umgedeutet wird. Oder der Wunsch, andere für sich arbeiten zu lassen, weil man selbst eigentlich keine rechte Lust dazu hat. So wird aus dieser eigentlich verpönten Eigenschaft eine scheinbar heilige Eigenschaft.

    Übrigens gibt es auch "richtig" und "falsch" keine objektiven Werte.

    Analog zur Evolutionstheorie gibt es aber etwas ähnliches: die funktionalen Aspekte eines Systems, die das Überleben des Systems sicherstellen.

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  • Man muss die biologische Evolutionstheorie als Vorbild nehmen.

    Schwierig, weil die Evolution viele unterschiedliche Modelle des Zusammenlebens hervorgebracht hat. Da bleibt das gleiche Dilemma: für welches Modell soll man sich entscheiden: für das der Bienen, der Walrosse, der Elefanten oder der Papageientaucher?

    der Sozialismus, der aber seltsamerweise immer wieder von vielen favorisiert wird.

    Meistens von Leuten die keine praktische Erfahrungen damit gesammelt haben. Man müsste sie mit Kubanern oder Nord-Koreanern in Kontakt bringen.

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    Ich glaube nicht, dass es eine Zivilreligion braucht, damit die Demokratie funktionert. Es reicht meines Erachtens aus, wenn eine Mehrheit der Meinung ist, dass der Erhalt der freiheitlichen demokratische Gesellschaft in ihrem Interesse ist. Zum Glück ist dies in Deutschland zur Zeit noch der Fall.


    Für mich ist es nicht undenkbar, dass irgendwann auch in Deutschland solche Verhältnisse wie derzeit in den USA eintreten könnten. Ich sage es schon seit Jahren, dass es dazu nur eine charismatische Persönlichkeit wie Hitler, Mussolini, Trump, Putin oder Orban braucht, mehr nicht. Die potentiellen Anhänger sind so zahlreich wie Sand am Meer. Das Deutschland der Weimarer Zeit hat gezeigt, dass der Übergang von der Demokratie zur Diktatur jederzeit möglich ist, wie es auch die aktuellen Entwicklungen in Ungarn, Serbien, Polen, Italien, Spanien, Russland und Frankreich befürchten lassen.

  • Menschenwürde müsste natürlich spezifiziert werden, v. a. müsste sie Freiheit und Gleichheit der Menschen garantieren und das müsste dann auch noch weiter spezifiziert werden (Gleichheit vor dem Gesetz, Wahlrecht, Meinungsfreiheit, Garantie körperlicher Unversehrtheit.........).

    Hier gehen wir auseinander. Ich glaube eher, daß die Menschenwürde an sich gerade nicht spezifiziert werden kann (und darf). Zwei Gedanken gingen mir bei Deinem Beitrag dazu durch den Kopf:

    1. Der Begriff der Menschenwürde scheint mir zunächst einmal soviele Facetten zu umfassen, daß jede Definition, die unserer Gesellschaft wirklich gerecht werden wollte, das Format eines Buches annehmen müßte. Gerade gestern gab es im Tagesspiegel eine Buchbesprechung zum Thema, welche zumindest meine Vermutung mitträgt, daß die Menschenwürde des Grundgesetzes "zwar kein eindeutiger Gottesbezug formuliert, doch weist sie auf eine starke, religiös geprägte Fraktion im Parlamentarischen Rat hin". Leider geht aus dem Artikel nicht genau hervor, ob diese Formulierung aus dem Buch stammt oder vom Autor des Artikels.
    2. Und ich stimme überein mit der Idee, daß der Artikel 1 GG eine Art Letztbegründung darstelle. Die von Dir beschriebenen Menschenrechte in der Klammer sind sicherlich wichtige Folgerungen daraus, doch glaube ich, daß sie eben "eher nur Folgerungen" sind, weil sie nicht direkt das Absolute repräsentieren. Diese Grundrechte scheinen mir bereits eher in der rationalen Sphäre verhaftet, während die Achtung der Menschenwürde schon eher im intuitiven Denken spielt, als etwas per se verehrungswürdigem.
      Ganz wesentlich spricht meines Erachtens für diese unterschiedliche Qualität, daß alle Grundrechte des GG gesetzlichen Einschränkungen unterworfen werden können mit Ausnahme eben der Menschenwürde des Artikel 1, die das Absolute repräsentiert.

    In summa glaube ich: wenn die Menschenwürde in dem von Dir beschriebenen Sinne spezifiziert oder konkretisiert würde, ergäbe sich alsbald das Bedürfnis nach einem neuen vorgelagerten Absoluten, das an die bisherige Stelle im Sinne einer Letztbegründung und Heiligung treten würde.

  • Hier gehen wir auseinander. Ich glaube eher, daß die Menschenwürde an sich gerade nicht spezifiziert werden kann (und darf).

    In dem Strang über Menschenwürde gab es vor kurzem eine ähnliche Diskussion. Quintus Ironicus gab zu bedenken, dass der Begriff der Menschenwürde, wie er in unserem GG steht eine angeborene Menschenwürde postuliert und dass die dann spezifizierten Grundrechte auf dieser Annahme basieren. Das scheint Deiner Vermutung eines religiösen Bezugs zu entsprechen und auch dem, was in dem von Dir verlinkten Artikel steht. Jedenfalls ist "Menschenwürde" demnach ein Konzept, das inhaltlich nicht gefüllt ist und seine Rechtfertigung aus religiösen oder naturrechtlichen Annahmen bezieht.


    Ich selbst halte diesen Begriff der "Menschenwürde" für wenig brauchbar. In einer säkularen Gesellschaft kann durch einen Gottesbezug nichts begründet werden. Und auch die naturrechtliche Behauptung einer "angeborenen Wesenseigenschaft der Menschenwürde" ist eine Prämisse, die man nicht teilen muss. Außerdem ist der Begriff inhaltsleer. Eine behauptete "Unantastbarkeit der Menschenwürde" bleibt eine Hohlformel, solange nicht spezifiziert wird, was da genau zu schützen ist.

    Es MUSS also genauer bestimmt werden, was genau die Menschenwürde schützt, sonst ist mMn mit dem Begriff überhaupt nichts anzufangen.

    Und ich stimme überein mit der Idee, daß der Artikel 1 GG eine Art Letztbegründung darstelle. Die von Dir beschriebenen Menschenrechte in der Klammer sind sicherlich wichtige Folgerungen daraus, doch glaube ich, daß sie eben "eher nur Folgerungen" sind, weil sie nicht direkt das Absolute repräsentieren. Diese Grundrechte scheinen mir bereits eher in der rationalen Sphäre verhaftet, während die Achtung der Menschenwürde schon eher im intuitiven Denken spielt, als etwas per se verehrungswürdigem.
    Ganz wesentlich spricht meines Erachtens für diese unterschiedliche Qualität, daß alle Grundrechte des GG gesetzlichen Einschränkungen unterworfen werden können mit Ausnahme eben der Menschenwürde des Artikel 1, die das Absolute repräsentiert.

    Es gibt eine ganze Reihe von Grundrechten im GG, die nicht alle gleichrangig sind und die auch miteinander konfligieren können. Und mMn könnte man einige auch in Frage stellen. Was aber mMn nicht hinterfragt werden darf, ist die Garantie von Freiheit und Gleichheit. Und dann gilt mMn das, was ich oben schon zu erklären versucht habe:

    Eine so verstandene Menschenwürde sehe ich als Grundlage jeder wirklich demokratischen Verfassung. Ich denke, dass diese Rechte garantiert sein müssen, um Gewaltfreiheit unter Menschen möglichst sicher zu stellen. Das Ermöglichen eines "gewaltfreies Zusammenleben" wäre aus meiner Sicht das übergeordnete Ziel einer demokratischen Verfassung. Das wäre nichts "Heiliges"; es würde sich vielmehr um die impliziten Voraussetzungen dessen handeln, was Demokratie will. Die gesicherte Handlungsfreiheit jedes Individuums ist geradezu die Voraussetzung demokratischer Prozesse.

    Wer eine gewaltfreie Gesellschaft will müsste also auch Freiheit und Gleichheit aller garantieren wollen. Es läge einfach in seinem Interesse. Eine demokratische Gesellschaftsordnung wäre also letztlich begründet durch das gemeinsame INTERESSE ihrer Mitglieder, ihr Zusammenleben friedlich regeln zu wollen. Eine weitere, möglicherweise transzendente Begründung ist mMn nicht erforderlich.

    Ich tendiere tatsächlich zunehmend in die Richtung, daß die Frage, welche gesellschaftlichen Normen in einer Demokratie einem Änderungswillen des Volkes entzogen sein sollen, letztendlich in eine Glaubensfrage mündet.

    Und nein, das wäre dann mMn keine Glaubensfrage. Freiheit und Gleichheit sind notwendigerweise zu schützen.

    Das stört doch keinen großen Geist (Karlsson vom Dach) 8)

  • [1]Schwierig, weil die Evolution viele unterschiedliche Modelle des Zusammenlebens hervorgebracht hat. Da bleibt das gleiche Dilemme: für welches Modell soll man sich entscheiden: für das der Bienen, der Walrosse, der Elefanten, der Papageientaucher?


    [2]Meistens von Leuten die keine praktische Erfahrungen damit gesammelt haben. Man müsste sie mit Kubanern oder Nord-Koreanern in Kontakt bringen.

    Zu 1:

    Ganz einfach. Die genetische Ausstattung muss zur gesellschaftlichen Organisationsform passen.


    Zu 2:

    Leider sind die Sozialismusfans oft ehemalige DDR-Bürger oder Westdeutsche die ein verklärtes Bild der DDR hatten. Es also eigentlich wissen müssten. Aber Gleichheit scheint für viele ein elementares Grundbedürfnis zu sein und um auf [1] Bezug zu nehmen, dürfte das durch entsprechende Gene verursacht werden.

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  • Die genetische Ausstattung muss zur gesellschaftlichen Organisationsform passen.

    Du meinst wahrscheinlich: Die gesellschaftliche Organisationsform muss an die genetische Ausstattung angepasst werden und nicht umgekehrt. Oder?

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  • Die genetische Ausstattung muss zur gesellschaftlichen Organisationsform passen.

    Ich stimme dir zu, sehe jedoch einige Schwierigkeiten:


    1. Zunächst müssten wir die genetische Ausstattung des Menschen genau erforschen, um besser zu verstehen, wie sie beschaffen ist.


    2. Basierend auf diesen Erkenntnissen müssten wir eine Gesellschaftsordnung entwickeln, die optimal zur menschlichen Ausstattung passt.


    3. Die eigentliche Herausforderung liegt meines Erachtens darin, diese ermittelte Ordnung erfolgreich in der Gesellschaft umzusetzen und dauerhaft aufrechtzuerhalten.

  • Genau das ist der falsche Weg. Es funktioniert nur empirisch und wie oben schon gesagt im Sinne der biologischen Evolution, also als algorithmischer Prozess gedacht. Eine Gesellschaftsform die sich funktional nicht bewährt hat wie zB. der Sozialismus, muss endgültig verworfen werden. Eine bestehende Gesellschaftsform kann durch kleine Anpassungen modifiziert werden. Bewähren sie sich, werden sie beibehalten, andernfalls verworfen. Hier liegt der Denkfehler der Soziologen und Politiker Sie glauben, man könne eine perfekte Gesellschaftsform am Reisbrett entwerfen und bestehende bewährte Systeme kurzfristig umbauen. Das klappt nicht, weil die menschliche Psyche zu komplex ist.


    Das Problem der heutigen Zeit ist die Fixierung auf die Moral anstelle der Funktionalität. Moral ist künstlich und aufgesetzt und passt nicht zur tatsächlichen Psychologie der Menschen. Sieht man doch recht deutlich am heutigen Mainstream. Die Moralisten sind in Wirklichkeit nicht an der Moral interessiert sondern am Aufpolieren des eigenen Egos. So wird die Moral pervertiert und ist lediglich ein Mittel zum eigentlichen Zweck: Macht, Eigeninteresse, Wichtigtuerei. Die Kirche hat es über Jahrhunderte vorgemacht, die heutige Religion nennt sich Wokeness.

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  • Du meinst wahrscheinlich: Die gesellschaftliche Organisationsform muss an die genetische Ausstattung angepasst werden und nicht umgekehrt. Oder?

    Aus dem Blickpunkt des engagierten Biobauern. Der will ein glückliches Vieh und schaut, dass es artgerecht - also seiner genetischen Ausstattung gemäß, die ja den Phänotyp mit seinen Bedürfnissen bestimmt - untergebracht wird.

    Aus dem Blickpunkt des menschlichen Wahlviehs würde ich sagen, dass immer noch sehr viele eine gewisse Selbstbestimmung nicht nur ihrer Geschlechterrolle wünschen, die sie einnehmen möchten, sondern auch bezüglich ihrer eigenen artgerechten Unterbringung und Lebensführung. Dass also die Organisationsform eher durch die Bedürfnisse der Individuen von unten nach oben ausgehandelt werden sollte, was meist nur Schrittweise und in einer Art try-and-error-Verfahren funktionieren dürfte.

    “I feel if you’re going to be canceled, this is the culture to be canceled by,” (Woody Allen)

    inde genus durum sumus, experiensque laborum / et documenta damus, qua simus origine nati. (Ovid)

    In der Philosophie geht es demgegenüber wie in jeder Wissenschaft um Wahrheit. (Ernst Tugendhat)

  • sondern auch bezüglich ihrer eigenen artgerechten Unterbringung und Lebensführung. Dass also die Organisationsform eher durch die Bedürfnisse der Individuen von unten nach oben ausgehandelt werden sollte, was meist nur Schrittweise und in einer Art try-and-error-Verfahren funktionieren dürfte.

    :/


    Zitat

    … sorry …


    ;(

    reguläre Phrasen

  • Das ist der falsche Weg. Es funktioniert nur empirisch und wie oben schon gesagt im Sinne der biologischen Evolution, also als algorithmischer Prozess gedacht. Eine Gesellschaftsform die sich funktional nicht bewährt hat wie zB. der Sozialismus, muss endgültig verworfen werden. Eine bestehende Gesellschaftsform kann durch kleine Anpassungen modifiziert werden. Bewähren sie sich, werden sie beibehalten, andernfalls verworfen. Hier liegt der Denkfehler der Soziologen und Politiker Sie glauben, man könne eine perfekte Gesellschaftsform am Reisbrett entwerfen und bestehende bewährte Systeme kurzfristig umbauen. Das klappt nicht, weil die menschliche Psyche zu komplex ist.

    Wenn Du das mit "Anpassung an die genetische Ausstattung des Menschen" meinst, dann hast Du meine volle Zustimmung. Trial an error ist auch für mich die Methode der Wahl. Die freiheitliche Demokratie scheint mir die Organisationsform, die diese Idee am besten verwirklicht.


    Das Problem der heutigen Zeit ist die Fixierung auf die Moral anstelle der Funktionalität. Moral ist künstlich und aufgesetzt und passt nicht zur tatsächlichen Psychologie der Menschen. Sieht man doch recht deutlich am heutigen Mainstream. Die Moralisten sind in Wirklichkeit nicht an der Moral interessiert sondern am Aufpolieren des eigenen Egos. So wird die Moral pervertiert und ist lediglich ein Mittel zum eigentlichen Zweck: Macht, Eigeninteresse, Wichtigtuerei. Die Kirche hat es über Jahrhunderte vorgemacht,

    Auch ich hinterfrage die Rolle von Moral in Politik und Gesellschaft. Tatsächlich halte ich sie im besten Fall für eine idealistische Täuschung, im schlechtesten für eine dreiste Lüge. Insbesondere in der Außenpolitik ist es mühsam, wenn ein kleiner Staat sich gegenüber einer Supermacht positioniert und ihr moralische Vorhaltungen macht. Welchen Effekt hat dieser moralische Zeigefinger wirklich? Ich meine im positiven Sinne. Ein mächtiger Verbrecher wird niemals aufgrund moralischer Appelle von seinen kriminellen Vorhaben ablassen. Diese Art von Individuen versteht nur eine Sprache: die der Stärke. Zumindest ist das meine persönliche Erfahrung.

    Einmal editiert, zuletzt von Brandon ()

  • Ich möchte nochmal auf Tauwetters Beitrag weiter oben zurückkommen und hoffe, daß mein Beitrag nicht zu zynisch ausfällt.


    Es gibt eine ganze Reihe von Grundrechten im GG, die nicht alle gleichrangig sind und die auch miteinander konfligieren können. Und mMn könnte man einige auch in Frage stellen. Was aber mMn nicht hinterfragt werden darf, ist die Garantie von Freiheit und Gleichheit. Und dann gilt mMn das, was ich oben schon zu erklären versucht habe:

    Wer eine gewaltfreie Gesellschaft will müsste also auch Freiheit und Gleichheit aller garantieren wollen.

    Hier machst Du eventuell zwei Schritte in einem. Nach meinem Wissensstand entspricht die Unantastbarkeit der Menschenwürde eigentlich der kantschen Forderung, Menschen "stets als Zweck an sich und nie als bloßes Mittel zum Zweck" zu betrachten. So gesehen beginnt der Angriff auf die Menschenwürde bei einigen Managern, mit denen ich zu tun hatte, die über Mitarbeiter als "Ressourcen" sprechen in ähnlicher Weise wie über Schreibtische oder Maschinen: auf meine Nachfrage erklärten diese auch ausdrücklich, daß für einen Betrieb ein Mitarbeiter eine "Ressource" sei, indem er nämlich eine gewisse Menge von Möglichkeiten eröffne, die Unternehmensziele zu verfolgen, und dabei Kosten verursache. Einen prinzipiellen Unterschied zu einer Maschine gäbe es rein aus wirtschaftlicher Sicht tatsächlich nicht. (Und wenn Du im Sinne des Zitates oben hier wenigstens Ansätze einer gewalttätigen Gesellschaft siehst, werde ich Dir ausdrücklich nicht widersprechen).


    Freiheit und Gleichheit folgen meines Erachtens wenigstens zu einem Mindestmaß notwendig aus diesem "Entzweckungsverbot". Wenn ich an unsere frühere Diskussion über die Sklaverei zurückdenke, so geht die absolute Unfreiheit des Sklaven ja darauf zurück, daß er - als Eigentum seines Halters - zu einem bloßen Erfüllungswerkzeug, einer Sache, entwürdigt wird, über die beliebig verfügt werden kann. Und - Anleihe aus gleichem Thread - jemanden in absoluter Not achselzuckend steckenzulassen, wäre mit der Idee "Mensch als Zweck" ebenso unvereinbar.


    Paganus gab zu bedenken, dass der Begriff der Menschenwürde, wie er in unserem GG steht eine angeborene Menschenwürde postuliert und dass die dann spezifizierten Grundrechte auf dieser Annahme basieren. Das scheint Deiner Vermutung eines religiösen Bezugs zu entsprechen und auch dem, was in dem von Dir verlinkten Artikel steht. Jedenfalls ist "Menschenwürde" demnach ein Konzept, das inhaltlich nicht gefüllt ist und seine Rechtfertigung aus religiösen oder naturrechtlichen Annahmen bezieht.


    Ich selbst halte diesen Begriff der "Menschenwürde" für wenig brauchbar. In einer säkularen Gesellschaft kann durch einen Gottesbezug nichts begründet werden. Und auch die naturrechtliche Behauptung einer "angeborenen Wesenseigenschaft der Menschenwürde" ist eine Prämisse, die man nicht teilen muss. Außerdem ist der Begriff inhaltsleer. Eine behauptete "Unantastbarkeit der Menschenwürde" bleibt eine Hohlformel, solange nicht spezifiziert wird, was da genau zu schützen ist.

    Mit dem Vorwurf der Hohlformel bist Du zumindest nicht allein, vergleiche den Abschnitt bei Wikipedia. Auch ich kann dieses Argument im Prinzip akzeptieren. Und gleichzeitig gehe ich mit Deinem zweiten Absatz nicht mit, in dem Sinne, daß ich die Bundesrepublik nicht wirklich als säkulare Gesellschaft betrachte, sondern eher ein Zweckbündnis zwischen den institutionellen Vertretern des Christentums und der staatlichen Verwaltung sehe. Dies im Sinne des Böckenförde-Diktums auch ausdrücklich mit dem Ziel, die "Prämisse" Art. 1 GG stabilisieren zu helfen. In Frankreich sähe die Argumentation womöglich anders aus, aber meine Kenntnisse der französischen Kultur und Gesellschaft reichen nicht aus, darüber zu reden.


    Und was das "nicht teilen müssen" der Prämisse betrifft, so sehe ich zumindest für Beamte mit der Pflicht zur Verfassungstreue genau so ein "müssen" gegeben. (Ein kleiner Seitengedanke: meines Kenntnisstandes nach sprechen in den USA Schulkinder normalerweise jeden Morgen bei Unterrichtsbeginn den Fahneneid. Es wäre interessant zu erfahren, welche Folgen es hätte, wenn ein Kind sich bewußt weigerte, den Eid mitzuleisten).


    Und man könnte ebenso argumentieren, daß man die Prämisse, eine gewaltfreie Gesellschaft zu wollen, "nicht teilen muss", und auch eine gewaltbasierte Gesellschaft lange Zeit stabil bleiben kann, wenn sie nur die Formung der Jugend in ihrem Geiste ausreichend sicherstellt. Als Beispiel möge die römische Republik dienen. Vielleicht kommt, wieder "einen Schritt zurück" letztendlich jeder Verfassungsgeber um genau einen Schritt nicht herum: allen Gesellschaftsmitgliedern zu unterstellen, daß sie dasselbe wollen, wie er selbst.

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