• Wahlfreiheit


    Über Joghurt-, Urlaubs- und Entscheidungskulturen


    Nostalgie, Sehnsucht nach der Welt von gestern, das Vergleichen dessen, was jetzt ist, mit dem, was einst war oder was einem die Erinnerung als jenes Gewesene präsentiert, sind mein Ding nicht. Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass wirklich alles Bestehende, alles Gegebene notwendigerweise auch besser ist als das Abgelöste, Untergegangene. Wenn nämlich irgendein Erinnerungen auslösendes Ereignis den Schalter im Hirn auf die Vergangenheit umlegt, bin ich ein ums andere Mal fast kindlich erstaunt, in welch schlichtem Gewand das vom Meer dieser Erinnerungen angeschwemmte einst Gegebene daherkommt, und welchen nahezu unwiderstehlichen Reiz es angesichts der hunderttausend Möglichkeiten der Gegenwart ausüben kann. Das Glückspotenzial erinnerten Lebens ist mitunter gewaltig.


    Als Kind stand ich gerne hinter der Theke im »Laden« meiner Großtante und hantierte am liebsten mit den Messingewichten, die im Holzblock neben der Hängewaage bereitlagen. Der »Laden« war ein winziger Verkaufsraum im Erdgeschoss des Zweifamilienhauses, der auf der einen Seite an die Waschküche grenzte und den man auf der anderen Seite von der Wohnküche her betrat. In ihr wartete man auch, wenn schon eine oder höchstens zwei andere Kundinnen im Halbdunkel vor der Ladentheke standen. In einem Dorf, in dem die meisten haupt- oder nebenberuflich Landwirtschaft betrieben, durfte das Sortiment übersichtlich sein wie der Hauptgang in einem der Gourmettempel dieser Welt, obwohl die leere Stellfläche des Ladens im Verhältnis deutlich geringer war als die ästhetisch bedingten Freiflächen auf den Tellern im Nobelrestaurant.


    Der bäuerlichen Umstände wegen brauchte es weder Milch- noch Fleischprodukte, Nudeln und Reis kannte und verzehrte der Bauer ohnehin nicht, Brot gab es in der Backstube, Honig auf den meisten Höfen, Obst verarbeitete man selbst und machte Marmelade daraus oder kochte es ein. Was nachgefragt wurde, waren Salz, Zucker, Kaffee (echter und falscher), Dosenmilch, ein paar exotische Konserven wie Ananas, Aprikosen oder Pfirsiche, natürlich die unvermeidlichen Gläser mit offenen Süßigkeiten, dazu ein paar Handarbeitsartikel und, man wollte sich ja auch einmal etwas Besonderes gönnen, ein paar Luxusartikel wie parfümierte Seife (Kernseife war Grundbestand, bei mäßiger Nachfrage), Zahnpasta und Zahnbürsten. Und zwei Sorten edeltropfiger und edel verpackter Pralinen, die ich aber enttäuschend fand, als mir eines Tages eine ganze Schachtel zugesteckt wurde, weil die Schokoladenhülle weißlich rissig und eingefallen und der edle Tropfen längst verdunstet war. Wer kam, wusste was er wollte oder schaute wie die herumdrucksenden Kinder, was man für sein Geld bekam. Die einzige Ratlosigkeit, die gelegentlich herrschte, war diejenige älterer Frauen (jüngere kamen nicht, es gab noch einen echten Laden), denen nach der dritten Tasse Kaffee in der Küche nicht mehr einfiel, was sie hatten besorgen wollen.


    So viel unverschuldete Ratlosigkeit wird in Zeiten meterlanger, vierstöckiger Kühlregalreihen mit drei Dutzend Joghurtsorten keiner mehr vermuten. Schon bevor wissenschaftliche Studien zeigten, dass zu viel Auswahl sich eher kaufhemmend auswirkt, hatte sich Erich Fried, wenn auch nicht mit Blick auf überfüllte Kühlregale, seinen eigenen Reim auf die Wahlfreiheit gemacht:

    Zitat
    Die üste hat die freie Wahl
    Wenn sie ein W wählt bleibt sie kahl
    Wenn sie ein K wählt wird sie naß –
    Die freie Wahl macht keinen Spaß

    Wer gelegentlich vorm Supermarktregal steht und rätselt, womit er sich und die Liebe(n) zuhause nun beglücken sollen muss, wird verstehen, was Fried meint. Vor einem türmen sich ja nicht nur unzählige Sorten Joghurt, es flattert vorm geistigen Augen vor allem das mit Riesenlettern bedruckte Transparent mit Fragen wie: »Warum hast du keinen Himbeerjoghurt mitgebracht?“ – und schon stellt man den Ananasjoghurt wieder zurück. Aber wird wirklich nach Himbeerjoghurt gefragt werden? Und was, wenn man ihn einpackt und hinterher gesagt wird: »Irgendwie habe ich mich am Himbeerjoghurt abgegessen.« Nein, so was Fieses darf nicht unterstellt werden – aber war jetzt der Himbeerjoghurt von Almglück gut und der von Wiesenglück schlecht, oder andersrum?


    Mal ehrlich: Solche Situationen bergen doch mehr Konfliktpotenzial für Beziehungen als diejenigen, in denen zum Beispiel einer die Tür aufreißt und sie dem anderen dabei versehentlich auf die Nase haut. Denn die allseits beliebte Wahlfreiheit im Supermarkt ist im Vergleich hierzu doppelt stressbehaftet, nämlich während des Wählens selbst und hinterher, wenn man der Falschwahl bezichtigt wird oder was man gewählt hat nicht schmeckt. Wenn ich dagegen dem anderen die Tür auf die Nase schmettere, bin ich in der Regel noch freudig und beschwingt ins Zimmer gestürmt, und aller Stress beschränkt sich auf die der blutigen Lage des schmerzlichen Augenblicks geschuldeten Konfliktsituation, die sich zwangsläufig früher oder später, je nach Bewusstseinszustand des Benachteiligten, entwickelt. Einmal Stress vermieden, wie sich anhand der Aufzeichnungen der Herzfrequenz auf der (Name des Obstes dem Verfasser bekannt)-Gesundheitsuhr ablesen lässt.


    Schlimmer noch als alle Joghurtauswahl ist die Wahl des Urlaubsdomizils, für die einem inzwischen praktisch die ganze Welt angeboten wird. Gut, Nordkorea, wo die Verkaufsräume kleiner als bei meiner Großtante aber übersichtlich sind und die Tellerfreiflächen der niedlichen Hausmannskostteller denen des Gourmettellers entsprechen, ist vielleicht keine echte Wahlmöglichkeit, doch jenseits dieses blinden Flecks auf der Landkarte beginnt der Auswahlprozess auch schon. Entsetzlich! ist gar kein Ausdruck für all die Implikationen und Unwägbarkeiten. Endloses Klicken durchs Internet, Vor- und Zurückblättern in Hochglanzprospekten, und selbst wenn man die Sache endlich schiedlich-friedlich geografisch stark eingeengt hat, will keine Lust an der Wahl aufkommen. Ein tolles Hotel in den Bergen, ein super Angebot im Ressort am See, Wasser hier und Hochalpines dort, wohin nun? Essen Dort, Fahrt Hier, und was, wenn nun Dort aber Hier nicht? Hätte man gleich Dort gesagt, also ohne sich über Hier zu informieren, würde man halt, wenn das Wetter später in Dort, anders als dann in Hier, bescheiden wäre, einfach Pech gehabt haben. Einfach! Wie im Türfall! Doch weil Hier eben auch zur Auswahl stand, verdoppelt sich das Pech wie im Joghurtfall, weil damit erst die Möglichkeit ins Spiel kommt, das eventuell schlechte Wetter in Dort umgangen haben zu können, ohne wiederum zu wissen, ob nicht in Hier trotz guten Wetters alles andere, was in Dort durchaus fein sein könnte, sauschlecht wäre. Außer dem Wiesenglückjoghurt, der der bessere wäre und aus Hier kommt, während Dort nur seinen schlechten Almglückjoghurt anbietet.


    Das muss nicht durch eine dritte Alternative und um weitere Glücks- und Pechkekse kompliziert werden. Das abschüssige, glitschige Terrain, das Ärgerliche, wie es jeweils für sich zweifellos viel stärker mit den unzähligen Möglichkeiten als mit etwas Tatsächlichem verknüpft ist, mag deutlich geworden sein: Die freie Wahl ist eine Stresssituation, und es ließe sich trefflich philosophieren und noch trefflicher moralisieren, wo Sinn und Unsinn, Zweckdienlichkeit und Fragwürdigkeit dieser freien Wahl liegen, und ab wann ihr Fehlen eine Erlösung von etlichen Übeln oder schon Paternalismus oder gar Zwang wäre. Auch wenn man zuhause bleibt im Urlaub, kann es wochenlang regnen. Meine Großtante könnte das von ihrer Wolke herab bestätigen, wie ich an dieser Stelle. Ich hätte sonst nämlich bei aller Freude an der Sache nicht ganz so oft in ihrem Laden mit den Gewichten hantiert, stattdessen wäre ich noch viel häufiger mit Schnur, Sicherheitsnadel, Eimer und einem Becher Regenwürmer auf Fischfang im nahen Fluss gegangen.


    Fragt mich morgen wieder wer: »Weißt du schon, was du im Urlaub machst?«, dann mach‘ ich dem erstens den Paddington (»Paddington gave him a hard stare«) und gebe ihm zweitens neudeutsch-dezent zu verstehen: » Ey! Mach mir bloß kein‘ Stress, Alter!«

    Ich will hier nur sitzen.

    Einmal editiert, zuletzt von Quintus Ironicus ()

  • Hau dein Geld zum Fenster raus, brauchst weder Urlaub noch ein Haus.

    Beim "Fressen" musst nun sparsam sein,

    drum fällt dir eine freie Wahl nicht ein.

    • Unser Urgrundsein ist Liebe! Lasst ihn uns wieder entdecken... <3
  • Das muss nicht durch eine dritte Alternative und um weitere Glücks- und Pechkekse kompliziert werden.

    … i’n siebzigern war auch bei’uns’in’e’arbeit’er’stadt die ( discount’ - ) obst’salat’dose „mythisch“ … und ihr „volk“te dann i’n neunzigern die’ein’weg’bier’dose … die zu’berg’n herum lag’ … un’drum wurde dann zu’m millenium „mora“l verkündet :

    … „obacht“ !

    … un’drum „sei’symbolism“ :

    … „still’halt“n’ !

    … mittler’weile …

    … „glotzt’mensch“ !

    … und „shop“d drum „online“ .

    … und ver’dau’d .

    … „nas’trovje“ !

    … per’suit „through“ happi’neß !

    reguläre Phrasen

  • drum fällt dir eine freie Wahl nicht ein.

    … "geschmack'los" ?


    <X


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