Lego sic scribo: Stoners Notate zur Literatur

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    Eine Hochzeitsnacht im Jahr 1962 als Thema eines Romans?


    Es hat funktioniert. Ian McEwan hat in seinem sehr kurzen Roman "Am Strand" genau dies getan und ein kleines psychologisches Meisterwerk einer auf allerlei Irrtümern und doch der großen Liebe basierenden Beziehungsgeschichte geliefert. Und dabei zumindest für den männlichen Teil nicht nur in Form der immer wieder geschalteten Frühgeschichte der beiden Protagonisten sondern auch des nachfolgenden Lebens dieses als Ganzes erzählt. Auf sehr wenigen Seiten.


    Es steckt darin ungeheuer viel. Die verquere Körperlichkeitder Generation der um 1940 Geborenen, in der weder über Körper noch über Beziehungen gesprochen wurde, was sich mit den 68ern dann weltweit radikal ändern sollte. Vielleicht hätte das die Heirat von Edward und Florence verhindert, oder aber die beiden hätten eine sehr moderne Beziehung geführt. Die Liebe war bei beiden, trotz aller ziemlich dämlichen Rationalisierungen vor allem von ihrer Seite schon da. Nur haben beide sie völlig unterschiedlich interpretiert und so die geistigen und körperlichen Reaktionen des anderen jeweils gründlich missverstanden. Edward wird am Ende seines Lebens, immer noch unsterblich verliebt, seinen Fehler erkennen. Schade, dass man ihre Sicht nicht mehr erfährt, sie wäre so spannend gewesen, was vielleicht der einzige kleine Makel des Romans ist. Obwohl man es sich schon denken kann.

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    In einem Strang hier geht es nebenbei um die berühmten Weltbilder, und zu unserem gehört ja die Überzeugung, dass wir schon lange als aufgeklärte Menschen in der Moderne (wahlweise auch der Postmoderne) leben. Als solche geistigen Modernisten blicken wir dann doch immer wieder mit der gleichen Verwunderung auf manche Bräuche, die allerdings sehr unterschiedlich lange zurückliegen. Amüsiert hat mich heute eine Szene aus Philip Roth' "Empörung", in der der Protagonist als College-Student mit einer Studentin ausgeht und voller Sehnsucht nach einem Kinobesuch eine der typischen "Fummeleien" im Auto beginnt, von der er sich nichts Endgültiges, was ihn ans Ziel seiner Sehnsucht bringen könnte, erwartet. Dass die Studentin ihm dann von sich aus, weil sie es scheinbar WILL, einen bläst, wirft ihn völlig aus der Bahn. Da geschieht etwas, wovon er nicht weiß, was er davon halten soll und er weiß auch nicht, ob er sie noch einmal treffen soll. Eine wunderbare Szene über das Frauenbild Anfang der Fünfziger, das sich sicher vom hiesigen nicht sehr unterschied und einen heute wie übers Mittelalter bloß noch den Kopf schütteln lässt. Wobei ich davon ausgehe, dass es auch in Deutschland wieder eine starke religiöse Minderheit gibt, in der die jungen Männer ein ähnlich verschrobenes Frauenbild haben. Nur dass Roth' Protagonist seines korrigieren kann.

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    Bin an <Lektionen> resp. <Lessons> von Ian McEwan. Für mich ist's ein Ritt der Gefühle, den ich zum Glück durch äussere Umstände ruhen lassen kann.

    Ich habe mich nun doch entschieden, das vor meinem Urlaub noch zu lesen und bin fast duch (noch 80 Seiten). Viel schreiben kann ich im Augenblick nicht darüber, es ist tatsächlich ein ziemlicher Ritt der Gefühle, je weiter die Gechichte fortschreitet. Wahrscheinlich muss ich es noch einmal lesen, mit etwas mehr Abstand, um mir besser darüber klar zu werden. Ich möchte nur einen einzigen Punkt herausgreifen, weil mich dieses Thema schon seit meinen Anfangszwanzigern umtreibt und mich noch immer sofort auf die Palme bringt, wenn ich kirchliche Granden oder, fast noch schlimmer, die Chefs der ärztlichen Standesvertretungen darüber faseln höre: den Umgang mit sterbenden Menschen. In England ist die Lage da auch noch immer schlecht, der Vater einer jungen englischen Kollegin musste vor einigen Jahren auch in die Schweiz fahren, um seinem Leben ein Ende setzen zu können. McEwan hat die Haltung der Ärzteschaft in einem Raunzer zusammengefasst:


    Zitat

    Das medizinische Establishment hatte zwei Jahrhunderte gebraucht, um auch nur auf die Idee zu kommen, mal durch ein Mikroskop zu blicken und sich Mikroorganismen anzusehen, die Antoni van Leeuvenhoeok bereits 1673 beschrieben hatte. Ärzte waren gegen Hygiene gewesen, weil sie Hygiene für eine Beleidigung ihrer Profession hielten, gegen Betäubungsmittel, weil Schmerzen gottgegebener Bestandteil der Krankheit seien, gegen die Theorie von Krankheitserregern, weil bei Aristoteles und Galen nichts darüber stand, gegen evidenzbasierte Medizin, weil man es schon immer anders gemacht hatte. So lange wie nur irgend möglich hatten sie an Blutegeln und Schröpfköpfen festgehalten. Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts hatten sie das massenhafte Entfernen der Mandeln befürwortet , obwohl nichts dafür sprach. Letzten Endes aber mussten sie sich dann doch immer eines Besseren belehren lassen. Eines Tages würde man auch einsehen, dass ein vernunftbegabter Mensch das Recht hatte, den Tod statt unerträglicher, unstillbarer Schmerzen zu wählen. Für Daphne zu spät.

    (Ian McEwan, Lektionen, Diogenes Verlag, S. 622)


    In Deutschland ist die Situation im Augenblick günstig, da das Urteil des Verfassungsgerichts noch uneingeschränkt gilt und die große Koalition der Verhinderer - die in dieser Frage reaktionäre Mehrheit der deutschen Bundestagsabgeordneten zusammen mit den ärztlichen Standes und den Kirchenvertretern - ihren nächsten Versuch, das Urteil auszuhebeln, noch nicht verabschiedet haben. Deshalb wird auch eine Kundin meiner Frau morgen ihre Wohnungssschlüssel abgeben und dann bei der Organisation ihrer Wahl ihren frei gewählten Schierlingsbecher trinken.


    Was den Roman angeht: dass so viel Deutschland drin steckt, macht mich nicht ganz glücklich, denn eigentlich meide ich deutsche Literatur ja ganz bewusst seit einigen Jahren. Aber davon abgesehen hat McEwan hier schon ein Stück herausragende Literatur geschaffen und es wieder geschafft, auch Zeitgeschichtliches zu beleuchten, vor allem auch den moralischen Zeitgeist der unterschiedlichen Zeiten - das Buch spielt ja über einen Zeitraum von etwa 70 Jahren. Das werde ich jetzt draußen auf dem eingesonnten Balkon zu Ende lesen.

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    Zugeklappt - und ich glaube, der Roman schafft es nicht unter die besten vier oder fünf McEwan-Romane. Auch wenn McEwan immer wieder zeigt, wie stark einzelne Biographien von weltpolitischen Ereignissen beeinflusst werden, scheint mir das hier nicht ganz so gelungen zu sein - zu viel wurde reingepackt, was eigentlich nicht so richtig zur Figur zu gehören scheint und zu einigen Längen führt. Sein Meisterstück ist es nicht, da bieten auf jeden Fall der Liebeswahn, Saturday, Abbitte, Am Strand und auch Maschinen wie ich oder Honig irgendwie mehr Spannung und etwas stringentere Figuren, bei denen das Rundherum nicht ganz so bemüht eingebunden wirkt. Lesbar aber auf jeden Fall, auch wenn er vielleicht die ganze lange Form John Irving überlassen sollte, dessen neuer Roman auch mal wieder den Weg in diesen Haushalt gefunden hat, nachdem mindestens das letzte halbe Dutzend an- oder ungelesen keine Gnade mehr fand. Aber Der letzte Sessellift erscheint mir mal wieder einen Versuch wert, auch wenn's vermutlich wieder superqueer :| zugehen wird.

  • Zugeklappt - und ich glaube, der Roman schafft es nicht unter die besten vier oder fünf McEwan-Romane. Auch wenn McEwan immer wieder zeigt, wie stark einzelne Biographien von weltpolitischen Ereignissen beeinflusst werden, scheint mir das hier nicht ganz so gelungen zu sein - zu viel wurde reingepackt,

    Du hast es geschafft. McEvan wirft wie Zeus Blitze aus heiterem Himmel. Der Anfang empfand ich als happig. Wer hat sich nicht schon ausgemalt, was geworden wäre, wenn statt der Romanischen Liebe, eine Einführung in die Geheimnisse der Liebe am Anfang gewesen wäre. Wie wäre das möglich und wie durchs Leben zu tragen? Drei Siebtel liegen in Englisch noch vor mir. Ich freue mich auf weiteren Donnergroll und die Ruhe danach. (o,o)

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    Mit drei Siebteln vor dir tauchst du dann so langsam in den traurigen Teil des Buches ein. In irgendeiner der Kritiken im vergangenen Jahr stand einmal, dass McEwan hier zu viele Figuren einbringe, die so ein bisschen im Nirgendwo verlaufen, und eigentlich kann ich diese Kritik inzwischen ein bisschen nachvollziehen. Ich weiß nicht, ob das gewollt war, aber ein bisschen weniger Personal wäre mir in der zweiten Hälfte lieber gewesen. Aber ich will nicht zu viel mäkeln.


    Mäkeln wäre eher bei etwas anderem angebracht. Ich wollte schon immer mal Russells Philosophie des Abendlandes lesen. Im Europa-Verlag ist Anfang Mai eine Neuausgabe erschienen. Die hatte ich mir bestellt, gestern traf das Buch hier ein - es ging postwendend zurück. Ich nehme an, dass es sich hier um einen photomechanischenkomprimierten Reprint einer älteren Ausgabe handelt. kaum Seitenränder, keine Zeilenabstände, dicke, fette enge Lettern. Für 36 Euro? No way! So habe ich mir jetzt die englische Ausgabe fürs halbe Geld auf den e-Reader geladen (eigentlich lese ich Philosophie nicht gerne auf dem Reader), da hab ich dann im Urlaub ein bisschen was zu schmökern, wenn ich mich zwischendurch oder abends mal am Strand von den Wanderstrapazen erhole.


    Ausgelesen habe ich jetzt am Morgen Robert Seethalers Das Café ohne Namen. Seethaler wird immer minimalistischer, seine Gestalten lauter kleine Verlierer des Alltags, Menschen, über die die Geschichte völlig hinweggeht, denen er hier eine Stimme gibt. Als solche sind die Charaktere wirklich gelungen gezeichnet, aber ich meine, es misslingt ihm trotz allem, deren Zeit einzufangen. Das Buch spielt zwischen 1966 und 1976, aber gäbe es nicht ein paar Kleinigkeiten technischer Art, an denen man das erkennt, käme man niemals auf diese Idee. Aus irgendeinem Grund wirkt es eher wie im Wien vor dem ersten Weltkrieg. Ich bin mir nicht sicher, ob der Tonfall und die Beschreibung wirklich zu dieser Zeit passt. Es fehlt irgendwie der Zeitgeist, meine ich. Ich glaube, ich brauch jetzt auch dringend irgendein Stück Literatur, das ein bisschen mehr Licht, Leuchten und Helle hat.

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    Seethaler ist neben Juli Zeh und Ralf Rothmann eigentlich der deutschsprachige Autor, dessen Bücher ich (fast alle) gerne gelesen habe, aber ich vermisse bei ihm allmählich etwas von dem Humor, der sogar noch in "Der Trafikant" steckte. Aber in den letzten drei Werken war davon leider nichts mehr zu spüren.


    Daher habe ich jetzt zu etwas gegriffen, was ich schon einmal gelesen habe: Vikas Swarups "Immer wieder Gandhi", eine rabenschwarze Satire auf die indische Oberklasse, indische Politik und das Kastenwesen, die Korruption, den Rassismus und alles, was dieses Land an gesellschaftspolitischen Monstrositäten zu bieten hat.

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