Trigger-Warnung
Der folgende Text beschreibt knapp meinen gegenwärtigen und vergangenen Gesundheitszustand. Da ich nicht weiß, ob empfindlichen oder anderweitig beeinträchtigten Personen durch die Lektüre Gefahr droht, empfehle ich diesen, davon Abstand zu nehmen.
Vom Wachen und Weinen
Mit halber Kraft am Leben. Hilfe gewährt der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, die Krücke aus dem Pharmazielabor. Seit ein paar Jahren schon. Die Kosten belaufen sich neben der obligatorischen Zuzahlung in der Apotheke auf eine Sterilisierung des Gefühlslebens und schöpferischen, angeregten Denkens.
Auch die Geburt meines Sohnes erlebte ich unter diesen Beschränkungen. Doch war sie wertvoll und wichtig genug, um mich in besonderem Empfinden zu wissen. "Glück" ist das rechte Wort dafür, wenngleich ein gezähmtes Glück, eines, das keine tiefe Leidenschaft mehr kennt. (Manchmal hadere ich mit mir und bilde mir ein, ein Betrüger zu sein. Einer, der die Momente des Lebens hinsichtlich ihrer Intensität und Echtheit nicht würdigt oder sie unter Zuhilfenahme von Dopingmitteln besteht.) Dieser Mangel an Gefühl ist aber eben auch nützlich, indem er Ängste reduziert oder sollte ich besser sagen, indem er (m)eine grundlegende, viel zu vitale Angst bändigt?
Ich bin wach, doch dieses Wachsein fühlt sich unvollständig an. Echter, herzzerreißender Schmerz ist für mich daher ebensowenig wahrnehmbar wie totale Verzückung. Es heißt, das Weinen sei der Männer Sache nicht. Ich bin dank meiner Medikation seit Jahren nicht mehr fähig, richtig zu weinen und kann nun, da es sich rar gemacht hat, sicher behaupten, dass es zur Lebendigkeit gehört. Und mein Wachsein wird von einem Schlaf schattenhaft begleitet. Wie ein Rätsel erscheint mir diese Müdigkeit, ein Rätsel, das ich noch zu lösen habe.
Die Sinus-Kurve des Lebens verflacht. Leidenschaft und Kreativität, womit ich früher meine Gedanken zu Papier brachte, sind aus meinem Leben nahezu verschwunden und mit ihnen die Lust und Freude am Schreiben überhaupt. Auch an anderen Bereichen nehme ich nur halbherzig teil. Die Partnerschaft leidet unter dem ewigen Tablettenkonsum, unter dem, was er aus mir macht. Doch sie leidet kaum stärker als sie wohl zuvor schon unter dem Einbruch meiner Abenddämmerung in unsere Beziehung litt. Aber wir halten durch. Auf Verständnis hoffe ich nicht mehr und an Mitleid liegt mir nichts.
Vorgeschichte
Mit halber Kraft voraus. Eine andere, turbulentere Kindheit wäre mir lieber gewesen. Eine mit mehr Mut, mit mehr Freunden, mit mehr Dummheiten und mehr Abenteuern. In der Schule wusste ich leistungsmäßig zu gefallen. Gute bis sehr gute Noten waren Normalität, aber ich spürte, dass etwas nicht stimmte, dass etwas Wesentliches fehlte. Der Blick in die Welt war nicht so fröhlich oder so gelassen, so aufgeschlossen und schon gar nicht so zuversichtlich wie es sich gerade für ein Kind gehört. Erst spät brach das aus mir heraus. Bis dahin schlug ich mich durch. Meistens war mir als schaute ich beunruhigt, rastlos durch einen Tunnel in die Welt.
Dann fing es an, sich bemerkbar zu machen: Zunächst fiel mir das Einschlafen schwerer und meine Gedanken nahmen immer mehr Raum ein. Traumartige Ausflüge schmuggelten sich in den Alltag. Das plätscherte so vor sich hin. Hinzu kamen körperliche Beeinträchtigungen, insbesondere Probleme mit dem Unterleib. Das führte dazu, dass ich weniger trank, damit die Flüssigkeitszunahme die Verdauung und die mit ihr einhergehende Unruhe nicht weiter anregte. Verspannungen machten sich bemerkbar. Wurden zahlreicher, intensiver. Die Jahre vergingen und ich fühlte mich immer irgendwie abgehängt, einsam und bedürftig.
Das Abitur war absolviert. Grundwehrdienst: keine Änderung. Die anschließende Ausbildung unter einigen Anstrengungen zum Abschluss gebracht, selbst die Philosophie sollte ich noch erfolgreich studieren. Doch nach zwei Jahren Studium verfinsterte sich die Lage und ich merkte, dass ich dem jahrelangen Leistungsdruck und der immer aufdringlicher werdenden Aussichtslosigkeit Tribut zollte. Mein Leistungsvermögen nahm ab, ich fühlte mich schwach und allem möglichen nicht mehr gewachsen. Da war kein Polster, keine Knautschzone und keine echte Freude mehr. Selbstverletzungen machten mich authentisch. Ein Klinikaufenthalt folgte. Und die Bekanntschaft mit einem Neuroleptikum. Erwartungsgemäß ließ es mich ermüden und verbesserte mein Einschlafen. Irgendwann versuchte ich es wieder ohne. Das ging nicht lange gut: Gereiztheit und Einschlafprobleme, Gedankenrasen, Angst. Der blasse Wunsch zu sterben verwandelte sich allmählich in eine geistige Ausarbeitung des Vorhabens. Endlich hatte ich eine Perspektive! Wenige Tage bevor ich dieses Vorhaben umzusetzen gedachte, fühlte ich mich deswegen frei und unbeschwert. Ich war nicht überfordert und hatte einen Plan, für dessen Ausübung alles Notwendige vorhanden war. Diese Aussicht begeisterte mich weil ich es mir so fest vornahm, dass ich mir selbst unaufhaltsam schien. Eine Last spürte ich von mir fallen. War ich in diesem kurzen Zeitraum glücklich?
Der Plan blieb unverwirklicht. Ein Klinikaufenthalt ersetzte das Vorhaben. Neues Medikament. Ich beweinte die Ausweglosigkeit, aber dann: Stimmungsaufhellung. Euphorie aufgrund des Verschwindens aller Sorgen. Ich war klar und auf eine ungeahnte Weise unverkrampft, bereit, anwesend. Mein Bauchgefühl blühte auf. Es kribbelte sanft dort in der Tiefe und auf vornehme Weise betörend. Als käme die Lebendigkeit von dort. Alle Anspannung wie weggefegt. Unfassbar! Keinerlei Berührungsängste. Mein Gedächtnis funktionierte unerhört gut. Ich war geordnet und gelassen, aufgeschlossen und geerdet. Lesen bereitete Vergnügen. Selbst anspruchsvollere Texte konnte ich lesen ohne hängenzubleiben. Gespräche zu führen fiel mir leicht. Ich war wach, aber nicht manisch, ich war bewusst am Leben. Ich war bei mir und mit meinen Taten im Reinen. Das fühlte sich gut an und ich war der Ansicht, dies sei der Zustand, der jedem Menschen zustehen sollte. Ich war meiner selbst sicher und wankte nicht. Fester Boden unter mir. Spürbar in kräftigem Stand. Alles in allem die Basics eines Lebens. Für mich viel mehr. Ich verschwendete keinen Gedanken an die Dunkelheit.
Nun mache ich schon ein paar Jahre meinen Job. Die Arbeit hat nichts mit meinen Abschlüssen zu tun und ich kann kaum von ihr leben. Ein Zeichen meines Scheiterns. Zwischendurch startete ich einen tablettenfreien Versuch: Nicht zu schaffen. Seit dieser Einsicht bin ich auf "Droge". Doch das Hochgefühl ist nicht mehr zurückgekehrt, Anspannung und Verkrampfung melden sich immer mal wieder. Der Boden ist wackelig geworden, aber nicht brüchig. Eine ungewohnte Langsamkeit zeichnet mich aus. Hat auch ihre guten Seiten. Die Angst hat mich nicht im Griff.
Die Müdigkeit schon eher. Oft bin ich müde. Meine Langsamkeit wird durch ein allzu rasches Vergehen der Zeit kontrastiert. Die Wochen eilen vorüber und ich kann nicht Schritt halten und komme nicht weiter. Dennoch habe ich vor, mich beruflich zu verbessern, bewerbe mich gelegentlich, nehme an Auswahlverfahren und Vorstellungsgesprächen teil, registriere die bedauernd Absagen. Ich bin nicht hoffnungslos. Mein Augenmerk liegt auf der Erhaltung meiner Gesundheit und die verantwortliche Wacht und Fürsorge dessen, der mir das wichtigste ist.
Erkenne dich selbst. Und gibt es Heilung, so heile dich selbst.