Der literarische Herbst 2014

  • Am vergangenen Sonntag ging die Frankfurter Buchmesse zuende. Auf der Rückfahrt von Frankfurt hörte ich einen Bericht im Radio, wonach die Zahl der Besucher zum zweiten Mal hintereinander rückläufig sei. Vielleicht ist ja der Typus "Leser" in einigen hundert Jahren - etwa dann, wenn Bücher-Wissen minimalinvasiv implantiert werden kann - ausgestorben, so wie es schon bald die Briefkultur sein wird; doch bevor das geschieht, noch schnell ein Blick in einige wenige Neuerscheinungen, die philosophisch von Interesse sein könnten:


    Der hier schon besprochene Philosoph Hans Blumenberg ist in den letzten Jahren mit diversen Publikationen aus dem Nachlaß einem breiteren Publikum bekannt geworden. Im Dezember erscheint nun eine Art Register zu den wichtigsten Schlüsselbegriffen seiner Philosophie: "Blumenberg lesen. Ein Glossar", hrsg. v. Robert Buch und Daniel Weidner. - "Ein Muss für jeden Blumenberg-Leser und -Forscher", schreibt der Verlag auf seiner Webseite. Da ist er wieder, jener Leser, der als kongenialer Partner aus der Philosophie des Erzählers Blumenberg kaum wegzudenken ist. Denn da wo Geschichten erzählt werden ("Problemkrimis", Marquard), braucht es zur Komplettierung dessen, was hermeneutische Situation genannt werden darf, den Hörer bzw. den Leser, der diese Geschichten in sich aufnimmt und bewahrt. Und so wundert es auch nicht, daß "Trost" eines der Stichworte dieses Glossars ist. Ob der Mensch des 21. Jahrhunderts noch trostbedürftig ist und ob er überhaupt seiner Verluste gegenwärtig ist, hängt vielleicht auch davon ab, welche erinnernde Kenntnis er noch von den Aussichten und großen Erwartungen hat, die ihm Religion und Aufklärung angetragen haben. Die Schriften Blumenbergs jedenfalls atmen desöfteren den Geist einer gelehrten Melancholie, weil sie von etwas Verlorenem, zumindest etwas Unwiederbringlichem handeln; den Trost darüber bringen sie gleich mit. -


    Vom Verlorenen ist es nur ein kleiner Schritt zur Neuübersetzung von Proust´s "Recherche". Jahrzentelang haben deutsche Proust-Leser die Welt der Swanns, Odettes und Saint-Loups und Albertines durch die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens kennengelernt. Nun hat Bernd -Jürgen Fischer die ersten drei Bände seiner Neuübersetzung von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" vorgelegt und ihnen - ähnlich wie die Frankfurter Ausgabe - einen Kommentar beigegeben, der es dem Leser ermöglicht, sich in dem komplexen Romanwerk zurechtzufinden. Anders als der Kommentar der Frankfurter Ausgabe verzichtet diese Neuübersetzung auf allzu instruktive und interpretierende Anmerkungen, sondern gibt nur die nötigsten Hinweise zum Verständnis. Das Ganze orientiert sich auch wieder an der Originaledition der "Recherche" in sieben Bänden, statt wie bisher in zehn.


    Der Proust-Leser - ihm wird die Beschäftigung mit dem Roman zu einem lebensumspannenden Tun. Wie viele sind nicht schon hingepilgert in die Gegend jenes fiktiven Combray, nach Tansonville oder nach Balbec. Was kann man dort suchen? Oder wichtiger noch: was kann man dort finden? - Vielleicht dieses: Trost.

  • Am vergangenen Sonntag ging die Frankfurter Buchmesse zuende. Auf der Rückfahrt von Frankfurt hörte ich einen Bericht im Radio, wonach die Zahl der Besucher zum zweiten Mal hintereinander rückläufig sei. Vielleicht ist ja der Typus "Leser" in einigen hundert Jahren - etwa dann, wenn Bücher-Wissen minimalinvasiv implantiert werden kann - ausgestorben, so wie es schon bald die Briefkultur sein wird; doch bevor das geschieht, noch schnell ein Blick in einige wenige Neuerscheinungen, die philosophisch von Interesse sein könnten:


    Der hier schon besprochene Philosoph Hans Blumenberg ist in den letzten Jahren mit diversen Publikationen aus dem Nachlaß einem breiteren Publikum bekannt geworden. Im Dezember erscheint nun eine Art Register zu den wichtigsten Schlüsselbegriffen seiner Philosophie: "Blumenberg lesen. Ein Glossar", hrsg. v. Robert Buch und Daniel Weidner. - "Ein Muss für jeden Blumenberg-Leser und -Forscher", schreibt der Verlag auf seiner Webseite. Da ist er wieder, jener Leser, der als kongenialer Partner aus der Philosophie des Erzählers Blumenberg kaum wegzudenken ist. Denn da wo Geschichten erzählt werden ("Problemkrimis", Marquard), braucht es zur Komplettierung dessen, was hermeneutische Situation genannt werden darf, den Hörer bzw. den Leser, der diese Geschichten in sich aufnimmt und bewahrt. Und so wundert es auch nicht, daß "Trost" eines der Stichworte dieses Glossars ist. Ob der Mensch des 21. Jahrhunderts noch trostbedürftig ist und ob er überhaupt seiner Verluste gegenwärtig ist, hängt vielleicht auch davon ab, welche erinnernde Kenntnis er noch von den Aussichten und großen Erwartungen hat, die ihm Religion und Aufklärung angetragen haben. Die Schriften Blumenbergs jedenfalls atmen desöfteren den Geist einer gelehrten Melancholie, weil sie von etwas Verlorenem, zumindest etwas Unwiederbringlichem handeln; den Trost darüber bringen sie gleich mit. -


    Vom Verlorenen ist es nur ein kleiner Schritt zur Neuübersetzung von Proust´s "Recherche". Jahrzentelang haben deutsche Proust-Leser die Welt der Swanns, Odettes und Saint-Loups und Albertines durch die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens kennengelernt. Nun hat Bernd -Jürgen Fischer die ersten drei Bände seiner Neuübersetzung von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" vorgelegt und ihnen - ähnlich wie die Frankfurter Ausgabe - einen Kommentar beigegeben, der es dem Leser ermöglicht, sich in dem komplexen Romanwerk zurechtzufinden. Anders als der Kommentar der Frankfurter Ausgabe verzichtet diese Neuübersetzung auf allzu instruktive und interpretierende Anmerkungen, sondern gibt nur die nötigsten Hinweise zum Verständnis. Das Ganze orientiert sich auch wieder an der Originaledition der "Recherche" in sieben Bänden, statt wie bisher in zehn.


    Der Proust-Leser - ihm wird die Beschäftigung mit dem Roman zu einem lebensumspannenden Tun. Wie viele sind nicht schon hingepilgert in die Gegend jenes fiktiven Combray, nach Tansonville oder nach Balbec. Was kann man dort suchen? Oder wichtiger noch: was kann man dort finden? - Vielleicht dieses: Trost.

  • Der hier schon besprochene Philosoph Hans Blumenberg ist in den letzten Jahren mit diversen Publikationen aus dem Nachlaß einem breiteren Publikum bekannt geworden.Im Dezember erscheint nun eine Art Register zu den wichtigsten Schlüsselbegriffen seiner Philosophie: "Blumenberg lesen. Ein Glossar", hrsg. v. Robert Buch und Daniel Weidner.


    Danke für den Hinweis! Schon wieder ein neues Blumenberg-Buch :) (schade, dass es erst Anfang Dezember erscheint; das wäre im Moment sehr praktisch...).


    ... jener Leser, der als kongenialer Partner aus der Philosophie des Erzählers Blumenberg kaum wegzudenken ist.


    Oh ja, den Eindruck, dass Blumenbergs Philosophie einen mindestens "kongenialen" Leser und Erzähler braucht (oder bräuchte) habe ich auch... tröstlich ist das allerdings nicht ;) .

    Es ist und bleibt das gleiche allerorten – man sagt am Ende nichts, in vielen Worten.
    M. Kaléko

  • Der hier schon besprochene Philosoph Hans Blumenberg ist in den letzten Jahren mit diversen Publikationen aus dem Nachlaß einem breiteren Publikum bekannt geworden.Im Dezember erscheint nun eine Art Register zu den wichtigsten Schlüsselbegriffen seiner Philosophie: "Blumenberg lesen. Ein Glossar", hrsg. v. Robert Buch und Daniel Weidner.


    Danke für den Hinweis! Schon wieder ein neues Blumenberg-Buch :) (schade, dass es erst Anfang Dezember erscheint; das wäre im Moment sehr praktisch...).


    ... jener Leser, der als kongenialer Partner aus der Philosophie des Erzählers Blumenberg kaum wegzudenken ist.


    Oh ja, den Eindruck, dass Blumenbergs Philosophie einen mindestens "kongenialen" Leser und Erzähler braucht (oder bräuchte) habe ich auch... tröstlich ist das allerdings nicht ;) .

    Es ist und bleibt das gleiche allerorten – man sagt am Ende nichts, in vielen Worten.
    M. Kaléko

  • Kennst Du den Film "Zwischen Himmel und Höhle", Bartleby? - Das ist ein filmisches Portrait Hans Blumenbergs (Autor: Franz-Josef Wetz), das der WDR mal in den 90er Jahren ausgestrahlt hat. Natürlich tritt Blumenberg darin nicht auf, aber der Film gibt einen wirklich guten Überblick über die Arbeitsschwerpunkte von Blumenbergs Philosophie. Leider ist der Film auch auf Youtube nicht zu finden. - (Ich hoffe natürlich, in den Genuß dessen zu kommen, wofür das zeitige Erscheinen des neuen Glossars "sehr praktisch" wäre! ;) )

  • Kennst Du den Film "Zwischen Himmel und Höhle", Bartleby? - Das ist ein filmisches Portrait Hans Blumenbergs (Autor: Franz-Josef Wetz), das der WDR mal in den 90er Jahren ausgestrahlt hat. Natürlich tritt Blumenberg darin nicht auf, aber der Film gibt einen wirklich guten Überblick über die Arbeitsschwerpunkte von Blumenbergs Philosophie. Leider ist der Film auch auf Youtube nicht zu finden. - (Ich hoffe natürlich, in den Genuß dessen zu kommen, wofür das zeitige Erscheinen des neuen Glossars "sehr praktisch" wäre! ;) )

  • Zum "Typus des Lesers", den Du, Nauplios erwähnt hast, fällt mir eine Passage aus der Rede von Jaron Lanvier ein, die er anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gehalten hat. Eigentlich thematisiert Lanvier weniger das Buch als vielmehr die Vorzüge, vor allem die Bedenklichkeiten des Internet ... insbesondere seine Überlegung zur vertieften, bedächtigen und Zeit beanspruchenden Aufmerksamkeit im Lesen des auf Papier gedruckten Textes allerdings haben mir anschaulich vor Augen geführt, daß das Lesen im "Netz" ganz vorrangig den "flüchtigen Blick" erfordert; mehr noch, das Erlernen des flüchtigen Blicks stellt geradezu eine Notwendigkeit dar, damit man auswählen und "etwas" lesen kann. In vergleichbarer Situation hat man sich früher eigentlich nur beim Aufenthalt in einer Bibliothek oder Buchhandlung gesehen. Daheim oder während man sich in Bus/Bahn fortbewegen ließ, hat man sich auf den Dialog mit einem Autor/einer Autorin einlassen müssen. Diesen Punkt zu beachten schien und scheint mir auf einmal bedeutsam - ich habe mir vorgenommen, mich zukünftig auf den "bedächtigen Blick" zu konzentrieren.


    Ich kopiere den Abschnitt - und noch die zwei kurzen Abschnitte, dier voranstehen sowie den längeren, der nachfolgt:


    Zitat von Lanvier

    Aus diesem Grund schreibt ein Geschöpf der digitalen Kultur wie ich Bücher, wenn es Zeit ist, einen Blick auf das große Ganze zu werfen. Denn es besteht die Chance, dass ein Leser ein ganzes Buch liest. Zumindest gibt es einen ausgedehnten Moment, den ich mit dem Leser teile.


    Wäre ein Buch nicht mehr als ein Erzeugnis aus Papier, könnten wir es nur auf die Art feiern, wie wir Klarinetten oder Bier feiern. Wir lieben diese Dinge, aber es sind eben nur bestimmte Erfindungen, aus denen sich Produkte entwickelt haben, mit ihren jeweiligen Fachmessen und Subkulturen.


    Doch ein Buch greift viel tiefer. Es ist die Feststellung eines bestimmten Verhältnisses zwischen einem Individuum und der menschlichen Kontinuität. Jedes Buch hat einen Autor, eine Person, die ein Risiko auf sich genommen und eine Verpflichtung eingegangen ist, in dem sie sagt: „Ich habe einen wesentlichen Teil meines kurzen Lebens damit verbracht, eine bestimmte Geschichte und einen bestimmten Standpunkt wiederzugeben, und ich bitte euch, dasselbe zu tun, indem ihr mein Buch lest: Darf ich so viel Engagement von euch verlangen?“ Ein Buch ist ein Bahnhof, nicht die Gleise. Bücher sind ein Spiel mit hohem Einsatz, vielleicht nicht in Bezug auf Geld (im Vergleich mit anderen Branchen), doch in Bezug auf Aufwand, Engagement, Aufmerksamkeit, der Bereitstellung unseres kurzen Menschenlebens und unseres Potenzials, positiven Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Autor zu sein, zwingt uns zu einer vermenschlichenden Form der Verwundbarkeit. Das Buch ist ein Bauwerk menschlicher Würde.

    Das Wesen des Buchs ist Beweis dafür, dass individuelle Erfahrung existentiell für die Bedeutungsebene ist, denn jedes Buch ist anders. Bücher aus Papier sind naturgemäß nicht zu einem kollektiven universalen Buch verquirlt. Seltsamerweise ist für uns der Gedanke normal geworden, es gäbe nur einen Wikipedia-Eintrag für ein humanistisches Thema, für das es absolut nicht die eine optimierte Darstellung geben kann; die meisten Themen sind keine mathematischen Sätze. Im Zeitalter des Buchdrucks gab es viele verschiedene Enzyklopädien, von denen jede einen Blickwinkel vertreten hat, und doch gibt es im digitalen Zeitalter nur eine. Wieso muss das so sein? Es ist keine technische Zwangsläufigkeit, trotz „Netzwerkeffekten“. Es ist eine Entscheidung, die auf dem unbestrittenen, aber falschen Dogma beruht, Ideen selbst sollten mit Netzwerkeffekten gekoppelt werden. (Manche sagen, Wikipedia werde zum Gedächtnis einer globalen künstlichen Intelligenz.)Bücher verändern sich. Einige der Metamorphosen sind kreativ und faszinierend. Ich bin entzückt von der Vorstellung, eines Tages könnte es Bücher geben, die sich mit virtuellen Welten synchronisieren, und von anderen seltsamen Ideen.

  • Zum "Typus des Lesers", den Du, Nauplios erwähnt hast, fällt mir eine Passage aus der Rede von Jaron Lanvier ein, die er anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gehalten hat. Eigentlich thematisiert Lanvier weniger das Buch als vielmehr die Vorzüge, vor allem die Bedenklichkeiten des Internet ... insbesondere seine Überlegung zur vertieften, bedächtigen und Zeit beanspruchenden Aufmerksamkeit im Lesen des auf Papier gedruckten Textes allerdings haben mir anschaulich vor Augen geführt, daß das Lesen im "Netz" ganz vorrangig den "flüchtigen Blick" erfordert; mehr noch, das Erlernen des flüchtigen Blicks stellt geradezu eine Notwendigkeit dar, damit man auswählen und "etwas" lesen kann. In vergleichbarer Situation hat man sich früher eigentlich nur beim Aufenthalt in einer Bibliothek oder Buchhandlung gesehen. Daheim oder während man sich in Bus/Bahn fortbewegen ließ, hat man sich auf den Dialog mit einem Autor/einer Autorin einlassen müssen. Diesen Punkt zu beachten schien und scheint mir auf einmal bedeutsam - ich habe mir vorgenommen, mich zukünftig auf den "bedächtigen Blick" zu konzentrieren.


    Ich kopiere den Abschnitt - und noch die zwei kurzen Abschnitte, dier voranstehen sowie den längeren, der nachfolgt:


    Zitat von Lanvier

    Aus diesem Grund schreibt ein Geschöpf der digitalen Kultur wie ich Bücher, wenn es Zeit ist, einen Blick auf das große Ganze zu werfen. Denn es besteht die Chance, dass ein Leser ein ganzes Buch liest. Zumindest gibt es einen ausgedehnten Moment, den ich mit dem Leser teile.


    Wäre ein Buch nicht mehr als ein Erzeugnis aus Papier, könnten wir es nur auf die Art feiern, wie wir Klarinetten oder Bier feiern. Wir lieben diese Dinge, aber es sind eben nur bestimmte Erfindungen, aus denen sich Produkte entwickelt haben, mit ihren jeweiligen Fachmessen und Subkulturen.


    Doch ein Buch greift viel tiefer. Es ist die Feststellung eines bestimmten Verhältnisses zwischen einem Individuum und der menschlichen Kontinuität. Jedes Buch hat einen Autor, eine Person, die ein Risiko auf sich genommen und eine Verpflichtung eingegangen ist, in dem sie sagt: „Ich habe einen wesentlichen Teil meines kurzen Lebens damit verbracht, eine bestimmte Geschichte und einen bestimmten Standpunkt wiederzugeben, und ich bitte euch, dasselbe zu tun, indem ihr mein Buch lest: Darf ich so viel Engagement von euch verlangen?“ Ein Buch ist ein Bahnhof, nicht die Gleise. Bücher sind ein Spiel mit hohem Einsatz, vielleicht nicht in Bezug auf Geld (im Vergleich mit anderen Branchen), doch in Bezug auf Aufwand, Engagement, Aufmerksamkeit, der Bereitstellung unseres kurzen Menschenlebens und unseres Potenzials, positiven Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Autor zu sein, zwingt uns zu einer vermenschlichenden Form der Verwundbarkeit. Das Buch ist ein Bauwerk menschlicher Würde.

    Das Wesen des Buchs ist Beweis dafür, dass individuelle Erfahrung existentiell für die Bedeutungsebene ist, denn jedes Buch ist anders. Bücher aus Papier sind naturgemäß nicht zu einem kollektiven universalen Buch verquirlt. Seltsamerweise ist für uns der Gedanke normal geworden, es gäbe nur einen Wikipedia-Eintrag für ein humanistisches Thema, für das es absolut nicht die eine optimierte Darstellung geben kann; die meisten Themen sind keine mathematischen Sätze. Im Zeitalter des Buchdrucks gab es viele verschiedene Enzyklopädien, von denen jede einen Blickwinkel vertreten hat, und doch gibt es im digitalen Zeitalter nur eine. Wieso muss das so sein? Es ist keine technische Zwangsläufigkeit, trotz „Netzwerkeffekten“. Es ist eine Entscheidung, die auf dem unbestrittenen, aber falschen Dogma beruht, Ideen selbst sollten mit Netzwerkeffekten gekoppelt werden. (Manche sagen, Wikipedia werde zum Gedächtnis einer globalen künstlichen Intelligenz.)Bücher verändern sich. Einige der Metamorphosen sind kreativ und faszinierend. Ich bin entzückt von der Vorstellung, eines Tages könnte es Bücher geben, die sich mit virtuellen Welten synchronisieren, und von anderen seltsamen Ideen.

  • Kennst Du den Film "Zwischen Himmel und Höhle", Bartleby?


    ... ach ja, Film gucken wollte ich zur Entspannung doch schon längst auch wieder mal :) . Nein, kenne ich leider nicht, und wüsste auch nicht, wo es den auszuleihen gibt (80 Euro sind mir dafür dann doch zu happig). Derzeit übe ich mich selbst - unter der Bedingung von Zeitknappheit - etwas im leichten philosophischen Geschichtenerzählen, was weitaus schwerer ist als gedacht. "Autor zu sein, zwingt uns zu einer vermenschlichenden Form der Verwundbarkeit" (Jaron Lanier). Sofern das Ganze aber auch wirklich ein Genuß wird werde ich ihn gerne hier teilen ;) .

    Es ist und bleibt das gleiche allerorten – man sagt am Ende nichts, in vielen Worten.
    M. Kaléko

  • Kennst Du den Film "Zwischen Himmel und Höhle", Bartleby?


    ... ach ja, Film gucken wollte ich zur Entspannung doch schon längst auch wieder mal :) . Nein, kenne ich leider nicht, und wüsste auch nicht, wo es den auszuleihen gibt (80 Euro sind mir dafür dann doch zu happig). Derzeit übe ich mich selbst - unter der Bedingung von Zeitknappheit - etwas im leichten philosophischen Geschichtenerzählen, was weitaus schwerer ist als gedacht. "Autor zu sein, zwingt uns zu einer vermenschlichenden Form der Verwundbarkeit" (Jaron Lanier). Sofern das Ganze aber auch wirklich ein Genuß wird werde ich ihn gerne hier teilen ;) .

    Es ist und bleibt das gleiche allerorten – man sagt am Ende nichts, in vielen Worten.
    M. Kaléko

  • Ich habe die Rede von Lanvier auf der Hinfahrt gehört, auch die Laudatio, die nicht nur ein Lobpreis auf den Preisträger war, sondern auch auf die bedrängte Lese- und Buchkultur; von den "Gefahren des Internets" und seiner ungeregelten und zügellosen Verbreitung war die Rede. Mich hat das ein wenig an die Warnungen vor dem Fernsehen erinnert, das in den 50er Jahren bei den Kulturkritikern in Verdacht stand, die guten Sitten zu untergraben oder gar das Augenlicht zu gefährden. Außerdem bangte man um eine gerade erst etablierte kulturelle Errungenschaft: das Kino. Eine Generation zuvor hatte gerade diesem "Massenmedium" die kulturkritische Skepsis gegolten; denn wer würde noch Romane lesen, wenn deren Handlung bequem und komprimiert in einem Lichtspiel-Theater zu sehen sei? - Dabei war der Roman anfangs Teufelszeug, vor dem man die Jugend und insbesondere die Frauen schützen mußte. Wenn schon lesen, dann im Buch der Bücher und dann aus frommen Motiven. Und es war zu Gutenbergs Zeit doch gerade das Buch gewesen, die schwarze Kunst, die den Argwohn von Mächtigen und Kirchenleuten erregte. Wohin sollte es mit der Welt führen, wenn jeder am Ende Zugang zu Büchern hatte? - Noch unter dem Stichwort "Lesesucht" bzw. "Lesewut" wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Debatte geführt um "falsche Lektüre" und "gefährliche Literatur". Heute wird das Lesen staatlich gefördert. -


    Zu allen Zeiten haben Gebildete vor den Folgen neuer Kommunikationsmedien gewarnt, vor Chaos, Zügellosigkeit und Verderbnis der guten Sitten. Ich denke, Lanvier hat Recht in seinen Warnungen vor der Machtkonzentration, die im Sammeln von Daten und Profilen liegt; doch ist das Internet auch ein Medium der politischen Mündigkeit. Wie einst das Buch wird es von autoritären Regimen gefürchtet, zensiert und verboten. - Natürlich gilt unsere Sympathie dem "Leser", dem Bedächtigen, dem Nachdenklichen, dem Zögernden. Die Allgegenwart der Metapher des Lesens hat die Welt zum Buch gemacht. Schon um diese Lesbarkeit der Welt wäre es schade. - :)

  • Ich habe die Rede von Lanvier auf der Hinfahrt gehört, auch die Laudatio, die nicht nur ein Lobpreis auf den Preisträger war, sondern auch auf die bedrängte Lese- und Buchkultur; von den "Gefahren des Internets" und seiner ungeregelten und zügellosen Verbreitung war die Rede. Mich hat das ein wenig an die Warnungen vor dem Fernsehen erinnert, das in den 50er Jahren bei den Kulturkritikern in Verdacht stand, die guten Sitten zu untergraben oder gar das Augenlicht zu gefährden. Außerdem bangte man um eine gerade erst etablierte kulturelle Errungenschaft: das Kino. Eine Generation zuvor hatte gerade diesem "Massenmedium" die kulturkritische Skepsis gegolten; denn wer würde noch Romane lesen, wenn deren Handlung bequem und komprimiert in einem Lichtspiel-Theater zu sehen sei? - Dabei war der Roman anfangs Teufelszeug, vor dem man die Jugend und insbesondere die Frauen schützen mußte. Wenn schon lesen, dann im Buch der Bücher und dann aus frommen Motiven. Und es war zu Gutenbergs Zeit doch gerade das Buch gewesen, die schwarze Kunst, die den Argwohn von Mächtigen und Kirchenleuten erregte. Wohin sollte es mit der Welt führen, wenn jeder am Ende Zugang zu Büchern hatte? - Noch unter dem Stichwort "Lesesucht" bzw. "Lesewut" wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Debatte geführt um "falsche Lektüre" und "gefährliche Literatur". Heute wird das Lesen staatlich gefördert. -


    Zu allen Zeiten haben Gebildete vor den Folgen neuer Kommunikationsmedien gewarnt, vor Chaos, Zügellosigkeit und Verderbnis der guten Sitten. Ich denke, Lanvier hat Recht in seinen Warnungen vor der Machtkonzentration, die im Sammeln von Daten und Profilen liegt; doch ist das Internet auch ein Medium der politischen Mündigkeit. Wie einst das Buch wird es von autoritären Regimen gefürchtet, zensiert und verboten. - Natürlich gilt unsere Sympathie dem "Leser", dem Bedächtigen, dem Nachdenklichen, dem Zögernden. Die Allgegenwart der Metapher des Lesens hat die Welt zum Buch gemacht. Schon um diese Lesbarkeit der Welt wäre es schade. - :)

  • Du schreibst vom "flüchtigen Blick" und vom "bedächtigen Blick", Friederike. Der flüchtige Blick ist auf der Flucht vor dem, was im Blick zu behalten mit Ablenkung vom Wesentlichen verbunden ist. Inmitten eines Meers von Über-flüssigem ist das Lesen Auslese. Anleitung zu solcher Auslese ist der Kanon, der in den letzten Jahren rehablitiert worden ist als zwar fremdbestimmte, dennoch nützliche Auswahl dessen, was zu lesen sei. Dieses bestimmt sich wiederum von seiner Wirkungsgeschichte und damit ist man an einer zentralen Stelle der literarischen Hermeneutik. Das wirkungsgeschichtlich Bedeutsame erfordert unseren Bedacht, erfordert, daß wir uns die Zeit nehmen, ihm nachzugehen. Der bedächtige Blick ist vom Typus jener Nachdenklichkeit, von der Hans Blumenberg sagt, in ihr liege ein Erlebnis von Freiheit, "zumal von Freiheit der Abschweifung". - Dort wo die Freiheit der Abschweifung nötig ist, ist die Freiheit der Ausschweifung möglich. Meines Wissens ist die Erotik des Buches noch ungeschrieben. Dabei ist doch das Buch durchaus Intention und Surrogat erotischer Absichten. Es kann prall gefüllt sein, bei älteren Exemplaren müssen die Seiten aufgeschnitten werden, ein Verlust an Unschuld, seine taktilen Reize liegen auf der Hand, seine Seiten verströmen einen betörenden Duft und man kann es mitnehmen ins Bett. Leserherz, was willst du mehr? -

  • Du schreibst vom "flüchtigen Blick" und vom "bedächtigen Blick", Friederike. Der flüchtige Blick ist auf der Flucht vor dem, was im Blick zu behalten mit Ablenkung vom Wesentlichen verbunden ist. Inmitten eines Meers von Über-flüssigem ist das Lesen Auslese. Anleitung zu solcher Auslese ist der Kanon, der in den letzten Jahren rehablitiert worden ist als zwar fremdbestimmte, dennoch nützliche Auswahl dessen, was zu lesen sei. Dieses bestimmt sich wiederum von seiner Wirkungsgeschichte und damit ist man an einer zentralen Stelle der literarischen Hermeneutik. Das wirkungsgeschichtlich Bedeutsame erfordert unseren Bedacht, erfordert, daß wir uns die Zeit nehmen, ihm nachzugehen. Der bedächtige Blick ist vom Typus jener Nachdenklichkeit, von der Hans Blumenberg sagt, in ihr liege ein Erlebnis von Freiheit, "zumal von Freiheit der Abschweifung". - Dort wo die Freiheit der Abschweifung nötig ist, ist die Freiheit der Ausschweifung möglich. Meines Wissens ist die Erotik des Buches noch ungeschrieben. Dabei ist doch das Buch durchaus Intention und Surrogat erotischer Absichten. Es kann prall gefüllt sein, bei älteren Exemplaren müssen die Seiten aufgeschnitten werden, ein Verlust an Unschuld, seine taktilen Reize liegen auf der Hand, seine Seiten verströmen einen betörenden Duft und man kann es mitnehmen ins Bett. Leserherz, was willst du mehr? -

  • Im Zusammenhang mit der Philosophie Blumenbergs ist gelegentlich der Name Wilhelm Schapp aufgetaucht. - Schapp ist ein außerhalb der phänomenologischen Forschung nahezu unbekannt gebliebener Philosoph und Jurist, ein Schüler von Rickert, Dilthey und Simmel, der 1909 seine Dissertation bei Husserl geschrieben hat: "Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung". - Auch Schapp geht es um eine Vergessenheit, nämlich eine "Geschichtenvergessenheit". Der menschliche Weltbezug ist für Schapp ein indirekter; zwischen den Dingen der Welt und den Tatsachen schieben sich die Geschichten der Menschen; wir sind "in Geschichten verstrickt" (ein weiterer Buchtitel Schapps). Das, was wir sind, sind wird kraft der Geschichten, in denen wir unauflösbar verstrickt sind. Der Mensch ist das mythogene Wesen, dessen Dasein maßgeblich von den Geschichten getragen wird, die ihn ausmachen. - Nun liegt Wilhelm Schapps "Philosophie der Geschichten" in einer neuen Auflage wieder vor. Das Buch war lange Zeit nur auf antiquarischem Wege bzw. in Universitätsbibliotheken zu erhalten. - Bis zum Erscheinen der großen Frankfurter Ausgabe war das beispielsweise mit den Arbeiten Georg Simmels auch so. - Aber so ist das wohl in der Philosophie; immer wieder werden Schätze geborgen, die nach Jahrzehnten des Vergessens dem philosophischen Denken neue Anregungen geben können; und oft genug ist es nicht das gerade erst erschienene Buch, das im Ruf steht, die allerneuesten Erkenntnisse zu präsentieren, welches weiterführt. -

  • Im Zusammenhang mit der Philosophie Blumenbergs ist gelegentlich der Name Wilhelm Schapp aufgetaucht. - Schapp ist ein außerhalb der phänomenologischen Forschung nahezu unbekannt gebliebener Philosoph und Jurist, ein Schüler von Rickert, Dilthey und Simmel, der 1909 seine Dissertation bei Husserl geschrieben hat: "Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung". - Auch Schapp geht es um eine Vergessenheit, nämlich eine "Geschichtenvergessenheit". Der menschliche Weltbezug ist für Schapp ein indirekter; zwischen den Dingen der Welt und den Tatsachen schieben sich die Geschichten der Menschen; wir sind "in Geschichten verstrickt" (ein weiterer Buchtitel Schapps). Das, was wir sind, sind wird kraft der Geschichten, in denen wir unauflösbar verstrickt sind. Der Mensch ist das mythogene Wesen, dessen Dasein maßgeblich von den Geschichten getragen wird, die ihn ausmachen. - Nun liegt Wilhelm Schapps "Philosophie der Geschichten" in einer neuen Auflage wieder vor. Das Buch war lange Zeit nur auf antiquarischem Wege bzw. in Universitätsbibliotheken zu erhalten. - Bis zum Erscheinen der großen Frankfurter Ausgabe war das beispielsweise mit den Arbeiten Georg Simmels auch so. - Aber so ist das wohl in der Philosophie; immer wieder werden Schätze geborgen, die nach Jahrzehnten des Vergessens dem philosophischen Denken neue Anregungen geben können; und oft genug ist es nicht das gerade erst erschienene Buch, das im Ruf steht, die allerneuesten Erkenntnisse zu präsentieren, welches weiterführt. -

  • Für Bartlebys Vortrag über Hans Blumenberg kommt es zu spät, doch ist das Erscheinen von "Blumenberg lesen" doch eine nachträgliche Meldung wert. "Blumenberg lesen" ist ein Glossar von insgesamt 25 Begriffen, die bei der Lektüre von Blumenberg immer wieder auftauchen und deren Verständnis das gelehrte Labyrinth der Blumenberg´schen Gedankenwelt sehr erleichtert. Erstellt wurde es von den üblichen Blumenberg-Rezipienten, die auch schon in der Vergangenheit Arbeiten über diesen Philosophen veröffentlicht haben, u.a. Rüdiger Zill, Felix Heidenreich, Ralf Konersmann, Oliver Müller, Manfred Sommer, Jürgen Goldstein, Franz Josef Wetz, Michael Moxter ... - Die 25 Stichpunkte des 400 Seiten starken stw-Bandes lauten:


    - Anekdote
    - Bedeutsamkeit
    - Ende
    - Epochenschwelle
    - Gnosis
    - Goethe
    - Höhle
    - Horizont
    - Kultur
    - Lebenswelt
    - Lesbarkeit
    - Mensch
    - Metapher
    - Mythos
    - Neugierde
    - Säkularisierung
    - Selbstbehauptung
    - Skepsis
    - Sorge
    - Sterne
    - Technik
    - Trost
    - Umbesetzung
    - Wirklichkeit
    - Zuschauer

  • Für Bartlebys Vortrag über Hans Blumenberg kommt es zu spät, doch ist das Erscheinen von "Blumenberg lesen" doch eine nachträgliche Meldung wert. "Blumenberg lesen" ist ein Glossar von insgesamt 25 Begriffen, die bei der Lektüre von Blumenberg immer wieder auftauchen und deren Verständnis das gelehrte Labyrinth der Blumenberg´schen Gedankenwelt sehr erleichtert. Erstellt wurde es von den üblichen Blumenberg-Rezipienten, die auch schon in der Vergangenheit Arbeiten über diesen Philosophen veröffentlicht haben, u.a. Rüdiger Zill, Felix Heidenreich, Ralf Konersmann, Oliver Müller, Manfred Sommer, Jürgen Goldstein, Franz Josef Wetz, Michael Moxter ... - Die 25 Stichpunkte des 400 Seiten starken stw-Bandes lauten:


    - Anekdote
    - Bedeutsamkeit
    - Ende
    - Epochenschwelle
    - Gnosis
    - Goethe
    - Höhle
    - Horizont
    - Kultur
    - Lebenswelt
    - Lesbarkeit
    - Mensch
    - Metapher
    - Mythos
    - Neugierde
    - Säkularisierung
    - Selbstbehauptung
    - Skepsis
    - Sorge
    - Sterne
    - Technik
    - Trost
    - Umbesetzung
    - Wirklichkeit
    - Zuschauer

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