Als J.S.Bach 1723 seine "Inventionen und Sinfonien" als ein Kompendium von Übungs- und Modellstücken zusammenstellte, gab er ihr auch eine ausführliche Zweckbestimmung bei:
"Auffrichtige Anleitung, Wormit denen Liebhabern des Clavires, besonders aber denen Lehrbegierigen, eine deütliche Art gezeiget wird, nicht alleine mit 2 Stimen reine spielen zu lernen, sondern auch bey weiteren progreßen auch mit dreyen obligaten Partien richtig und wohl zu verfahren, anbey auch zugleich gute inventiones nicht alleine zu bekommen, sondern auch selbige wohl durchzuführen, am allermeisten aber eine cantable Art im Spielen zu erlangen, und darneben einen starcken Vorschmack von der Composition zu überkommen."
Am allermeisten aber eine cantable Art im Spielen zu erlangen... Cantabile, also singbar oder gesangsartig sollte der "Liebhaber des Claviers" spielen. Das ist allerdings eine Ermahnung, die man gerade so manchem Virtuosen in Erinnerung rufen möchte, dessen Spiel sich in der Demonstration technischer Leichtigkeit und Perfektion zu verlieren droht und dem Zweck zu dienen scheint, möglichst viele Töne in möglichst kurzer Zeit zu produzieren. Aber die Gefahr, sich in "Technik" und "Effekt" zu verlieren, besteht auch bei elektronischen Instrumenten wie z.B. der E-Gitarre. Damit kann man allerlei Krach erzeugen, kann mit Verzerrung, Übersteuerung und Rückkopplung herumspielen und so mit verhältnismäßig geringem Einsatz von musikalischem Können viel Wirkung erzielen. Gutes E-Gitarrenspiel geht anders, nämlich vor allem kantabel.
Carlos Santana braucht man nicht unbedingt zu rühmen, er ist so ziemlich jedem bekannt, der sein Ohr der Pop- und Rockmusik nicht völlig verschließt. Jeder kennt Melodien wie "Black Magic Woman", "Samba pa ti" oder "Oye como va". Aber jeder ERKENNT auch schnell seinen charakteristischen Ton, der sich seit seinen Anfängen in den 60er Jahren nicht sehr verändert hat. Das liegt natürlich auch an seiner Treue zu einem bestimmten Equipment, aber doch viel mehr an seiner Art des Spiels. Und das ist eben eine kantable Art. Santana versteht es wirklich, auf der E-Gitarre zu singen.
Das ist der Hauptgrund, warum jeder sein "Samba pa ti" kennt:
http://www.youtube.com/watch?v=DWO_eojWezg
Aber auch in flotten und fetzigen Stücken kann Santana gar nicht anders als kantabel zu verfahren:
http://www.youtube.com/watch?v=t0F5K5lMeIQ
Es kommt in seinen Soli nie vor, dass er sich in mechanischer Spielerei und bedeutungslosem Gezupfe und Geschrammel ergeht, auch nicht in solchen "rockigen", "groovigen" Stücken wie "Hope you're feeling better":
http://www.youtube.com/watch?v=Ai7rkFj4w3I
Obwohl der olle Bach bestimmt Probleme dabei gehabt hätte, seine Ohren an die laute und im Wesentlichen unchristliche Rockmusik zu gewöhnen - ich bin sicher, Carlos Santanas "cantable Art" wäre ihm nicht entgangen... Dabei fällt mir gerade auf, dass die beiden sich auch insofern nicht völlig fremd wären, als sie ja doch - jeder auf seine Weise - Musik primär als Spiritualität verstehen...