Zur Grenze der Demokratie

  • Ich möchte nochmal auf Tauwetters Beitrag weiter oben zurückkommen und hoffe, daß mein Beitrag nicht zu zynisch ausfällt.


    Ich sehe mich nicht im Gegensatz zu dem, was Du behauptest. Natürlich entspricht die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht den Forderungen der Verfassung und erst recht nicht orientiert sich jedes Gesellschaftsmitglied daran in seiner persönlichen Moral. Menschen werden in unserer Gesellschaft vielfach "verzweckt", wie Du ja in Deinen Beispielen ausführst. Menschen als wirtschaftliche Ressource zu betrachten und auch wenigstens teilweise so zu behandeln, ist in unserer Gesellschaft nicht verboten. Aber auch ein noch so zynischer Arbeitgeber kann verklagt werden, wenn er sich nicht an den Arbeitsvertrag hält. Und vor dem Recht sind - idealerweise - alle Menschen gleich. Und es ist möglich Verfassungsklage zu erheben.

    Ich bin natürlich nicht so naiv anzunehmen, dass das auch alles so schön funktioniert. Der Arbeitgeber sitzt meist am längeren Hebel und auch Richter urteilen voreingenommen, oberflächlich, uninformiert oder einfach nur zu spät in unserem überlasteten Rechtssystem.

    Woran wird nun festgemacht, daß und welche bestimmte normative Fragen "nicht zur Disposition" stehen?

    Das war Deine Ausgangsfrage und daran orientiere ich mich immer noch bei der Diskussion. Meine Antwort wäre: Freiheit und Gleichheit dürfen nicht zur Disposition stehen. Die Garantie von Freiheit und Gleichheit scheint mir der Forderung zu entsprechen, dass Menschen nicht "Verzweckt" werden dürfen. Dass auf diversen Gesellschaftlichen Ebenen - wie in Deinem Managerbeispiel - Menschen trotzdem als Mittel zum Zweck betrachtet werden ist mMn trauriger Alltag und lässt sich nicht ändern. Der demokratische Staat kann nur die Grundvoraussetzungen eines gewaltfreien Zusammenlebens zu garantieren versuchen

    daß ich die Bundesrepublik nicht wirklich als säkulare Gesellschaft betrachte, sondern eher ein Zweckbündnis zwischen den institutionellen Vertretern des Christentums und der staatlichen Verwaltung sehe. Dies im Sinne des Böckenförde-Diktums auch ausdrücklich mit dem Ziel, die "Prämisse" Art. 1 GG stabilisieren zu helfen.

    Betrachtet man die Frage, vor welchem Hintergrund die Verfassung der Bundesrepublik entstanden ist, gebe ich Dir recht. Betrachtet man die Frage, was in einer demokratischen Verfassung niemals zu Disposition stehen darf, dann komme ich wieder zu "Freiheit und Gleichheit", was ich ganz unhistorisch und idealtypisch meine.

    Und man könnte ebenso argumentieren, daß man die Prämisse, eine gewaltfreie Gesellschaft zu wollen, "nicht teilen muss", und auch eine gewaltbasierte Gesellschaft lange Zeit stabil bleiben kann, wenn sie nur die Formung der Jugend in ihrem Geiste ausreichend sicherstellt. Als Beispiel möge die römische Republik dienen. Vielleicht kommt, wieder "einen Schritt zurück" letztendlich jeder Verfassungsgeber um genau einen Schritt nicht herum: allen Gesellschaftsmitgliedern zu unterstellen, daß sie dasselbe wollen, wie er selbst.

    Die Werte einer idealtypischen demokratischen Verfassung werden ganz bestimmt nicht von jedem Mitglied der zugehörigen demokratischen Gesellschaft geteilt. Die meisten werden die Verfassung nicht einmal wirklich kennen und sich überhaupt wenig Gedanken darum machen. Und es kann Gruppierungen geben, die versuchen die demokratische Verfassung auf politischem Weg abzuschaffen.

    Und auch eine Autokratie kann politisch stabil bleiben, allerdings sicher nicht gewaltfrei, den die Opposition wird mundtot gemacht und endet im Straflager oder gleich im Grab.


    Die Verfassungsgeber einer demokratischen Verfassung (jetzt einmal als imaginäre Versammlung gedacht) können sicher nicht unterstellen, dass alle Gesellschaftsmitglieder de facto das gleiche wollen wie sie selbst. Aber sie müssen unterstellen, dass alle das gleiche wollen sollten, wenn sie eine freiheitliche und gewaltfreie Gesellschaft wollen. Das ist nicht im Sinne einer Bevormundung gemeint, sondern als ein a priori.

    Das stört doch keinen großen Geist (Karlsson vom Dach) 8)

  • Die Verfassungsgeber einer demokratischen Verfassung (jetzt einmal als imaginäre Versammlung gedacht) können sicher nicht unterstellen, dass alle Gesellschaftsmitglieder de facto das gleiche wollen wie sie selbst. Aber sie müssen unterstellen, dass alle das gleiche wollen sollten, wenn sie eine freiheitliche und gewaltfreie Gesellschaft wollen. Das ist nicht im Sinne einer Bevormundung gemeint, sondern als ein a priori.

    Ich glaube, hier steuern wir mit Macht auf die Antwort der Ursprungsfrage zu:thumbup:. Aber zunächst einmal ein Einwand: ich finde, wenn die Verfassungsgeber "unterstellen müssen, daß alle das gleiche wollen sollten, wenn sie ... wollten", beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn nach meinem Eindruck unterstellen sie eben regelmäßig, daß ihre Zielpersonen eine ...-Gesellschaft wollen, wenn sie nicht eine reine Diktatur im Sinne haben. Ich vermute, sie müssen diese Übereinstimmung sogar unterstellen (oder in Carl Schmitts Sinne, eher verlangen), weil eine Verfassung prinzipiell eben für alle Menschen im jeweiligen Staatsgebiet verbindlich ist.


    Vorgestern gab es in der Tagesschau einen vielkommentierten Artikel "Steinmeiers Dilemma" zum Umgang des Bundespräsidenten mit der Afd. Wenn ich mir die zugehörigen Kommentare ansehe, dann gibt es zwar eine überragende Mehrheit dafür, daß der Bundespräsident sich schärfer gegen die demokratiefeindliche Afd positionieren solle, aber bei der Frage, was (unsere) Demokratie eigentlich ausmacht, sehe ich in den Kommentaren schon deutlich mehr Uneinigkeit. Ein Auszug:

    • "Parteien kategorisch ablehnen... Die Schweiz zeigt uns immer wieder wie diese Enstscheidungen gute Lösungen für die Mehrheiten bringen. " (Teilnehmer "werner1955" auf Seite 1)
    • "Das Wesentliche an der Demokratie ist nicht, dass die Mehrheit entscheidet. Sondern dass auch Minderheiten zu ihrem Recht kommen" (unmittelbar folgendes Kontra von "Mauersegler")
    • "Dieser Verfassung fehlt ein wichtiges Element ... ein 'Staatsziel' -> Anti-Faschismus -- gerade um zu verdeutlichen - welche verbrecherische Ideologie D-Land in den tiefen Abgrund geführt hat" (Teilnehmer "Miauzi" auf Seite 2)

    Und "ich1961" führt fort "Also für mich schließt sich Demokratie und AfD und deren Wähler schlicht aus.".


    Alles zusammengenommen, sehe ich dahinter den Gedanken, daß sich eine Verfassung nicht aus dem Nichts ableiten läßt, sondern ihre Legitimation an der gesellschaftlichen Zustimmung hängt - und daß viele Teilnehmer wollen, daß diese Zustimmung erhalten bleibt.


    Im Sinne meiner Eingangsfrage "Woran wird nun festgemacht, daß und welche bestimmte normative Fragen 'nicht zur Disposition' stehen?" sehe ich für dieses "Woran" zumindest zwei Quellen:

    1. Die Möglichkeit des Verfassungsgebers, seine Vorstellung direkt durchzusetzen. Im Falle des Grundgesetz war der parlamentarische Rat durch die aliierten Militärregierungen eingesetzt, welche die Legislative in Deutschland mit der faktischen militärischen Herrschaft ausreichend begründet hatten.
    2. Die jeweilige Bevölkerung, welche in überwältigender Mehrheit an bestimmten gesellschaftlichen Elementen festhalten will. Mit "überwältigend" meine ich hier, daß abweichende Meinungen nicht in dem Maße auftreten beziehungsweise zugelassen werden, daß sie diese allgemeine Stimmung kippen könnten.

    Diese beiden Quellen können einander auch gegenseitig hervorbringen, sei es, daß eine Bevölkerung in Notsituationen jemanden mit Vollmachten ausstattet, die Staatsverhältnisse zu ordnen (z. B. Quintus Hortensius, Sulla), oder die vom Verfassungsgeber designierten Regierungen die Bevölkerung im Sinne der "neuen Regeln" zu orientieren suchen. Als Dauerzustand scheint mir 2. stabiler, wenn die jeweilige Gesellschaftsordnung so ist, daß sie den betreffenden Bevölkerungswillen dauerhaft reproduziert. Aber beides scheint mir unter der "Macht des Faktischen" gut subsumiert.


    Und auch eine Autokratie kann politisch stabil bleiben, allerdings sicher nicht gewaltfrei, den die Opposition wird mundtot gemacht und endet im Straflager oder gleich im Grab.

    Ich wäre mit dem Wort "sicher" vorsichtig. Zumindest in den geläufigen Darstellungen des Mittelalters gab es weite Phasen weitgehender gesellschaftlicher Stabilität und Ruhe, weil alle Bevölkerungsschichten von der Gottgewolltheit der Gesellschaftsordnung mit all ihren Ungerechtigkeiten überzeugt waren. Im Ägypten der Pharaonenzeit war es vermutlich ähnlich. Einzelne "Häretiker" gab es zwar immer wieder, die aber den gesellschaftlichen Konsens selten ernsthaft bedrohen konnten.


    "Nicht-physische Gewalt" im Sinne, Menschen mit abweichenden Vorstellungen zurechtzuweisen und notfalls gesellschaftlich "mundtot zu machen", wenn sie den Konsens zerstören würden, sehe ich allerdings in jeder -kratie als gegeben und ist vermutlich für ein dauerhaftes Bestehen auch essentiell notwendig.

  • Aber zunächst einmal ein Einwand: ich finde, wenn die Verfassungsgeber "unterstellen müssen, daß alle das gleiche wollen sollten, wenn sie ... wollten", beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn nach meinem Eindruck unterstellen sie eben regelmäßig, daß ihre Zielpersonen eine ...-Gesellschaft wollen, wenn sie nicht eine reine Diktatur im Sinne haben. Ich vermute, sie müssen diese Übereinstimmung sogar unterstellen (oder in Carl Schmitts Sinne, eher verlangen), weil eine Verfassung prinzipiell eben für alle Menschen im jeweiligen Staatsgebiet verbindlich ist.

    MMn beißt die Katze sich nicht in den Schwanz. Es geht darum die Voraussetzungen einer demokratischen Verfassung zu finden. Da spielt die Meinung derjenigen, die etwas anderes wollen, keine Rolle.

    Alles zusammengenommen, sehe ich dahinter den Gedanken, daß sich eine Verfassung nicht aus dem Nichts ableiten läßt, sondern ihre Legitimation an der gesellschaftlichen Zustimmung hängt - und daß viele Teilnehmer wollen, daß diese Zustimmung erhalten bleibt.

    Eine - in meinem Sinn idealtypische demokratische Verfassung, in der Freiheit und Gleichheit nicht zur Disposition stehen - lässt sich nicht vor jedem kulturellem Hintergrund durchsetzen. Frauenrechte sind für die Taliban indiskutabel und sind auch in vielen anderen islamisch geprägten Ländern mehr oder minder eingeschränkt. Und bis vor noch nicht allzu langer Zeit gab es rassistische Einschränkungen z. B. in Südafrika und den USA. In Israel scheint gerade ein Versuch unterwegs zu sein, die Rechte des arabischen Bevölkerungsanteils einzuschränken (wozu zunächst die Kontrolle des obersten Gerichtshofs ausgeschaltet werden muss). Aber das sind Fragen der Durchsetzbarkeit, nicht der Legitimität.


    Was die Situation in Deutschland angeht: Auch hier gibt es demokratiefeindliche Kräfte . In anderen demokratischen Ländern - USA; Israel..... - sind diese Kräfte bereits so stark, dass die Demokratie auf der Kippe steht. Die Voraussetzungen der Demokratie sollen dort von innen her ausgehöhlt werden; z. B. wird in den USA versucht, dem schwarzen Bevölkerungsanteil das Wählen zu erschweren. In Deutschland ist die Situation bei weitem nicht so brisant. Allerdings gibt es wenigstens in Teilen der AfD eine ethnische Definition des Deutschen Volkes, was auf Rassismus raus läuft. Die Afd wird jedoch ordnungsgemäß gewählt und die rassistischen Anteile sind mMn für die meisten der Wähler gar nicht so offensichtlich. Es scheint mir ein Balanceakt zu sein, wie damit umgegangen wird. Eine demokratisch ordnungsgemäß gewählte Partei zu verbieten, ist schwierig, sowohl unter Gesichtspunkten der Legitimität als auch der Durchsetzbarkeit.

    Im Sinne meiner Eingangsfrage "Woran wird nun festgemacht, daß und welche bestimmte normative Fragen 'nicht zur Disposition' stehen?" sehe ich für dieses "Woran" zumindest zwei Quellen:

    In Deinen Beispielen argumentierst Du pragmatisch, d. h. Du fragst nach den politischen Kräften, die eine demokratische Verfassung durchsetzen können (Militär, Stimmung der Bevölkerung). Ich selbst habe immer idealtypisch argumentiert.

    Ich wäre mit dem Wort "sicher" vorsichtig. Zumindest in den geläufigen Darstellungen des Mittelalters gab es weite Phasen weitgehender gesellschaftlicher Stabilität und Ruhe, weil alle Bevölkerungsschichten von der Gottgewolltheit der Gesellschaftsordnung mit all ihren Ungerechtigkeiten überzeugt waren. Im Ägypten der Pharaonenzeit war es vermutlich ähnlich. Einzelne "Häretiker" gab es zwar immer wieder, die aber den gesellschaftlichen Konsens selten ernsthaft bedrohen konnten.

    Ich kenne mich historisch zu wenig aus, um zur Gewaltfreiheit in diesen Gesellschaften inhaltlich etwas zu sagen . Mir scheint allerdings der Vergleich zweifelhaft. In diesen Gesellschaften schien, wie Du ja selbst sagst, die Ordnung "gottgewollt". Etwas anderes war kaum vorstellbar. Es gab keine organisierte politische Opposition. In den modernen Autokratien gibt es relativ starke politische Gegenkräfte, die mit Gewalt klein gehalten werden.

    Das stört doch keinen großen Geist (Karlsson vom Dach) 8)

  • Ich habe länger über Tauwetters Antworten nachgedacht. Vielleicht schaffe ich es nicht, meine Frage gut zu formulieren. Ich versuche es nochmal ansetzend an dem Punkt

    In Deinen Beispielen argumentierst Du pragmatisch, d. h. Du fragst nach den politischen Kräften, die eine demokratische Verfassung durchsetzen können (Militär, Stimmung der Bevölkerung). Ich selbst habe immer idealtypisch argumentiert.

    Ich hatte meine Argumentation in Bezug auf die Legitimation verstanden,also, warum eine Verfassung durchgesetzt werden könne/solle. Aus Deiner Antwort scheint mir, daß die "freiheitliche und gewaltfreie Gesellschaft" schlicht etwas ist, was Du realisiert sehen willst und wofür Du Deine Kräfte einsetzen wirst, sofern möglich und zweckmäßig. Ich habe hier Anführungszeichen benutzt, weil ich diese Gesellschaft als Beispiel betrachte, wobei verschiedene Personen ihre Zustimmung zu unterschiedlichen Gesellschaften geben würden.


    Können wir sagen, daß eine idealtypische Argumentation - wenigstens für Verfassungen - letztendlich immer auf Glaubenssätze oder Bauchgefühl/Intuition hinausläuft? Ich muß in dem Zusammenhang wieder an die Formulierung von Hans Jonas denken, wonach seine "Idee des Menschen" eine "derartige ist, daß sie ihre Realisierung in der Welt fordert" (aus: Das Prinzip Verantwortung). Für mich wirkt sein Werk teilweise stark wie Versuche, nachträglich eine rationale Begründung für etwas zu fassen, was intuitiv "längst klar sein sollte".

  • Aus Deiner Antwort scheint mir, daß die "freiheitliche und gewaltfreie Gesellschaft" schlicht etwas ist, was Du realisiert sehen willst und wofür Du Deine Kräfte einsetzen wirst, sofern möglich und zweckmäßig. Ich habe hier Anführungszeichen benutzt, weil ich diese Gesellschaft als Beispiel betrachte, wobei verschiedene Personen ihre Zustimmung zu unterschiedlichen Gesellschaften geben würden.


    Alles zusammengenommen, sehe ich dahinter den Gedanken, daß sich eine Verfassung nicht aus dem Nichts ableiten läßt, sondern ihre Legitimation an der gesellschaftlichen Zustimmung hängt - und daß viele Teilnehmer wollen, daß diese Zustimmung erhalten bleibt.


    Wird eine Verfassung für Dich dadurch legitim, dass die betroffene Bevölkerung ihr mit großer Mehrheit zugestimmt hat? Auch dann wenn sie einige Bevölkerungsgruppen diskriminiert ( Frauen, Schwarze, Araber, Juden, Christen, Muslime, Homosexuelle.........) . Das könnte ja nur so gehen, dass diese diskriminierten Gruppen entweder gar nicht hätten ihre Stimme abgeben dürfen oder sich selbst hätten die Bürgerrechte absprechen müssen. Das erste wäre undemokratisch, das zweite paradox.

    Freiheit und Gleichheit sind mMn dem Begriff der Demokratie inhärent, sie sind die Bedingung ihrer Möglichkeit. Werden sie nicht garantiert, ist eine Verfassung nicht demokratisch. Und eine mehrheitliche Zustimmung zu einer solchen Verfassung wäre allenfalls die Zustimmung der gesellschaftlich mächtigsten Gruppen.

    Können wir sagen, daß eine idealtypische Argumentation - wenigstens für Verfassungen - letztendlich immer auf Glaubenssätze oder Bauchgefühl/Intuition hinausläuft?

    Die Grundlagen einer demokratischen Verfassung sind mMn nicht selbst wieder demokratisch legitimierbar. Aber sie sind auch mehr als Glaubenssätze oder Bauchgefühl/Intuition. Eine Verfassung, die nicht die persönliche Autonomie aller Gesellschaftsmitglieder in Form von Freiheit und Gleichheit garantiert, ist keine demokratische Verfassung. Freiheit und Gleichheit sind die Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie.

    Das stört doch keinen großen Geist (Karlsson vom Dach) 8)

  • Freiheit und Gleichheit sind die Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie.

    Meines Wissens stammt der Slogan Freiheit und Gleichheit von der Französischen Revolution und war dort noch gepaart mit dem Begriff der Brüderlichkeit (damals noch ohne Gleichberechtigung der Frau). Dieser letzte Akzent mit der eher emotionalen Verbundenheit zwischen den Demokratieteilnehmern scheint mir nicht ohne Bedeutung zu sein, damit Demokratie wirklich funktioniert. Dieser Aspekt der Brüderlichkeit beinhaltet etwas, was aus der Geschwisterbeziehung in einer Familie abgeleitet ist. Es ist mehr als die Gewährung von Freiheit und Gleichheit. Es ist das aktive Mittragen der Schwächeren.

  • Philodendron

    Glaubst Du, dass dieser Aspekt der Solidarität mit den Schwächeren verfassungsmäßig verankert werden muss. Im Sinn der Threadfrage, welche normativen Aspekte in einer Demokratischen Verfassung nicht zur Disposition stehen dürfen.?

    Das stört doch keinen großen Geist (Karlsson vom Dach) 8)

  • Philodendron

    Glaubst Du, dass dieser Aspekt der Solidarität mit den Schwächeren verfassungsmäßig verankert werden muss. Im Sinn der Threadfrage, welche normativen Aspekte in einer Demokratischen Verfassung nicht zur Disposition stehen dürfen.?

    Obwohl meine Meinung nicht angefragt ist, hoffe ich, dass meine Äußerung nicht stört. Grundsätzlich werden in einer Verfassung die Werte verankert, die die Gesellschaft als besonders wichtig erachtet.

  • Grundsätzlich werden in einer Verfassung die Werte verankert, die die Gesellschaft als besonders wichtig erachtet.

    Ist schon klar, aber die Eingangsfrage von Aktenordner war, "welche Werte in einer demokratischen Verfassung nicht zur Disposition stehen dürfen".

    Das stört doch keinen großen Geist (Karlsson vom Dach) 8)

  • Ist schon klar, aber die Eingangsfrage von Aktenordner war, "welche Werte in einer demokratischen Verfassung nicht zur Disposition stehen dürfen".

    Meine Atwort: die Werte, die die Gesellschaft unbedingt bewahren möchte.

  • Ich denke noch über Tauwetters längeren Beitrag #25 nach, vorab schon mal eine kleine "Kurskorrektur":

    Ist schon klar, aber die Eingangsfrage von Aktenordner war, "welche Werte in einer demokratischen Verfassung nicht zur Disposition stehen dürfen".

    Nicht ganz. Ich habe vielleicht ungeschickt formuliert. Meine Eingangsfrage zielte eigentlich darauf ab, nach welchen Kriterien die Grundsatzentscheidungen festgelegt werden, die in einer Demokratie nicht (mehr) zur Disposition stehen, und woraus sich diese Unterscheidung legitimiert. Im letzten Absatz meines Eingangsbeitrags hatte ich das schon etwas polemisiert: wenn es ein Orakel oder einen Weisen gibt, das/der bestimmte Entscheidungen "richtig" trifft, warum wird dann dieses Orakel nicht für alle politischen Fragen eingesetzt?


    Tauwetter hatte mir bei meiner Zwischenbilanz entgegengehalten, daß ich pragmatisch argumentiere, sie dagegen idealtypisch. Aktuell neige ich eher zu einer Variante des anthropischen Prinzips, nämlich, daß in jeder "altgedienten" Staatsverfassung notwendigerweise jene Elemente nicht zur Disposition stehen können, die ihr Fortbestehen bewirken. Andernfalls wäre die Verfassung schlicht "längst untergegangen" - entsprechend meinem Hinweis im Leistungsgesellschaftsthread, daß womöglich jede ausreichend komplexe Gesellschaft zwangsläufig instabil werden müsse.

  • Wird eine Verfassung für Dich dadurch legitim, dass die betroffene Bevölkerung ihr mit großer Mehrheit zugestimmt hat? Auch dann wenn sie einige Bevölkerungsgruppen diskriminiert ( Frauen, Schwarze, Araber, Juden, Christen, Muslime, Homosexuelle.........) .

    Ich lasse die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit zumindest solange als Legitimation gelten, bis ein stärkeres oder schwerwiegenderes Gegenargument vorgelegt wird.


    Eventuell reden wir auch schlicht aneinander vorbei beziehungsweise verstehen Worte unterschiedlich. Zum Beispiel beginnt die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit den Worten "We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, ...". Ich bin kein native speaker und übersetze die Einleitung als "Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich: ...". Das ist für mich im Prinzip ein Glaubensbekenntnis. Ich beschränke den Begriff "Glauben" nicht auf Aussagen mit Gottesbezug, sondern verstehe darunter generell Aussagen, die

    1. der Sprecher aus tiefster innerer Überzeugung ausspricht, ohne für sie nach einer Begründung zu bedürfen oder überhaupt zu suchen und
    2. mit dem Anspruch vorgetragen werden, daß ihnen jedermann zuzustimmen habe.

    Ein mathematisches Axiom wäre wohl ein naheliegendes Pendant. Die wesentlichen Unterschiede sehe ich darin, daß das Axiom nicht mit Leidenschaft verteidigt wird und daraus keine gesellschaftlichen Verhaltensnormen abgeleitet werden. Falls es für die oben beschriebene Aussagenklasse einen geisteswissenschaftlich/psychologisch besser treffenden Begriff gibt, lasse ich mich gerne anleiten.


    In Bezug auf die Unabhängigkeitserklärung stellt sich die Frage, was mit jemandem passieren sollte, für den diese Wahrheiten nicht selbstverständlich sind oder der sie gar als falsch einstuft. Derjenige würde die Begründung "Das ist doch selbstverständlich!" womöglich einfach mit den Worten "für mich nicht" zurückweisen. In der Praxis würde es wohl darauf hinauslaufen, diesen Abweichler notfalls aus der Gesellschaft auszuschließen, weil er sich so fundamental von allen anderen Mitgliedern unterscheidet, daß er "nicht mehr zu uns gehören kann". Ist das dann schlicht ein womöglich notwendiger Consensus gentium?


    Das könnte ja nur so gehen, dass diese diskriminierten Gruppen entweder gar nicht hätten ihre Stimme abgeben dürfen oder sich selbst hätten die Bürgerrechte absprechen müssen. Das erste wäre undemokratisch, das zweite paradox.

    Den zweiten zitierten Satz halte ich für sehr verkürzend. Ohne im Moment eine abschließende Meinung zu bilden, sehe ich solche Entwicklungen durchaus als möglich an:

    • "undemokratisch": abgesehen davon, daß der Begriff der Demokratie für mich um so schillernder wird, je mehr Stellungnahmen unterschiedlicher Seiten ich dazu lese, halte ich es für durchaus möglich, daß eine Verfassung so ein- und durchgesetzt wird (so die "oktroyierten Verfassungen" in der Restaurationszeit). Wenn die benachteiligten Gesellschaftsschichten oder die Gesamtbevölkerung über lange Zeit mit Gewalt bei der Stange gehalten und nachhaltig im Sinne der herrschenden Lehre indoktriniert wird, halte ich eine allgemeine Resignation oder einen aufkommenden allgemeinen Glauben an das Gesetz(te) für möglich.
    • "paradox": eine Verfassung fällt nicht immer vom Himmel. Falls sie im Rahmen einer Revolution gesetzt wird, stimme ich Dir in der Tat zu, daß eine Bevölkerungsgruppe sich nicht aus freiem Willen einer Verschlechterung ihrer gesellschaftlichen Position unterwerfen würde. Eine schleichende Umgestaltung der gesellschaftlichen Wertvorstellungen dahingehend, daß eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ganz langsam zurückgedrängt wird, halte ich für ein mögliches Szenario, zum Beispiel beim Aufkommen einer neuen Mehrheitsreligion (auch hier der Verweis auf das Mittelalter mit der sehr eingeschränkten rechtlichen Stellung der Frau im Vergleich zur Kelten-/Germanenzeit).
      Im Diskussionsrahmen des Klimawandels werden Forderungen nach einer Selbstentmachtung der Menschheit insgesamt übrigens schon länger aufgebracht (vergleiche Jonas "Heuristik der Furcht" in: Das Prinzip Verantwortung). Im Prinzip könnte eine abgrenzbare Bevölkerungsgruppe diese Argumentation auch rein auf sich adaptieren.
  • Wird eine Verfassung für Dich dadurch legitim, dass die betroffene Bevölkerung ihr mit großer Mehrheit zugestimmt hat?

    Eine Verfassung wird für mich dadurch legitim, dass ich ihr zustimme.

    Einmal editiert, zuletzt von Brandon ()

  • Nicht ganz. Ich habe vielleicht ungeschickt formuliert. Meine Eingangsfrage zielte eigentlich darauf ab, nach welchen Kriterien die Grundsatzentscheidungen festgelegt werden, die in einer Demokratie nicht (mehr) zur Disposition stehen, und woraus sich diese Unterscheidung legitimiert.


    Habe überlegt, ob ich die Eingangsfrage nicht ganz richtig verstanden habe und die Richtung meiner Antworten anpassen muss. Einerseits zielt die Frage ja auf die politische Praxis ab : Nach welchen Kriterien werden Grundsatzentscheidungen - de facto - festgelegt.

    Andererseits wird die Frage nach der Legitimation der - unter nach welchen Kriterien auch immer - festgelegten Grundsatzentscheidungen aufgeworfen. Ich bin v. a. auf die Frage nach der Legitimation eingegangen, denn natürlich können diese Grundsatzentscheidungen, die in einer Verfassung landen, unter ganz unterschiedlichen und "merkwürdigen" Umständen getroffen worden sein und deshalb erschien mir das eher nachrangig. Aber ich werde es mehr im Auge behalten.

    nämlich, daß in jeder "altgedienten" Staatsverfassung notwendigerweise jene Elemente nicht zur Disposition stehen können, die ihr Fortbestehen bewirken.

    Das scheint mir auch notwendigerweise so zu sein. Konkret könnte das bedeuten, dass in einer Apartheitsgesellschaft, die Apartheit in der Verfassung nicht in Frage gestellt werden kann, ohne das ganze Staatsgefüge aus den Angeln zu heben. Ich vermute, dass Israel, das sich ja als jüdischen Staat versteht, unterschwellig vor einem ähnlichen Dilemma steht (verstärkt dadurch, dass der arabische Bevölkerungsanteil immer größer wird).

    Ich beschränke den Begriff "Glauben" nicht auf Aussagen mit Gottesbezug, sondern verstehe darunter generell Aussagen, die
    der Sprecher aus tiefster innerer Überzeugung ausspricht, ohne für sie nach einer Begründung zu bedürfen oder überhaupt zu suchen und
    mit dem Anspruch vorgetragen werden, dass ihnen jedermann zuzustimmen habe.


    Ich gebrauche den Begriff genauso. An dieser Stelle haben wir uns also sicher nicht missverstanden.

    In Bezug auf die Unabhängigkeitserklärung stellt sich die Frage, was mit jemandem passieren sollte, für den diese Wahrheiten nicht selbstverständlich sind oder der sie gar als falsch einstuft.

    Wie bereits erwähnt, bin ich mit der deutschen Verfassung im großen und ganzen einverstanden, obwohl ich einige - eher nachrangige Punkte - für diskussionswürdig halte. Ich denke aber, dass das Gros der deutschen Bevölkerung sich damit nicht auseinandergesetzt hat. Und sollte es "zum Schwur kommen" wäre ein erheblicher Teil der Bevölkerung auch gar nicht wirklich damit einverstanden, z. B. was Frauenrechte oder Religionsfreiheit angeht. Die Frage stellt sich aber in der Praxis erst dann, wenn von Bevölkerungsgruppen oder einzelnen Bürgern gegen Verfassungsgrundsätze verstoßen wird, z. B. weil Frauen zwangsverheiratet werden sollen, Sonderrechte für Religionen verlangt werden, die z. B. gegen das Tierschutzgesetz verstoßen oder überhaupt eine eigene Gerichtsbarkeit durchgesetzt werden soll. Dann wird darüber diskutiert und das rechtlich geregelt. Eine bessere Methode fällt mir nicht ein. Und wenn jemand prinzipielle Bedenken gegen die Verfassung hat, kann er versuchen auf politischem Weg Einfluss zu nehmen oder - auch das ist denkbar - das Land verlassen.

    "undemokratisch": abgesehen davon, daß der Begriff der Demokratie für mich um so schillernder wird, je mehr Stellungnahmen unterschiedlicher Seiten ich dazu lese, halte ich es für durchaus möglich, daß eine Verfassung so ein- und durchgesetzt wird (so die "oktroyierten Verfassungen" in der Restaurationszeit). Wenn die benachteiligten Gesellschaftsschichten oder die Gesamtbevölkerung über lange Zeit mit Gewalt bei der Stange gehalten und nachhaltig im Sinne der herrschenden Lehre indoktriniert wird, halte ich eine allgemeine Resignation oder einen aufkommenden allgemeinen Glauben an das Gesetz(te) für möglich

    So kann es natürlich laufen . Aber würdest Du dann noch von einer Demokratie sprechen, wenn die Bürger was aufs Auge gedrückt bekommen und dann aus Angst stillhalten.

    Eine schleichende Umgestaltung der gesellschaftlichen Wertvorstellungen dahingehend, daß eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ganz langsam zurückgedrängt wird, halte ich für ein mögliches Szenario, zum Beispiel beim Aufkommen einer neuen Mehrheitsreligion (auch hier der Verweis auf das Mittelalter mit der sehr eingeschränkten rechtlichen Stellung der Frau im Vergleich zur Kelten-/Germanenzeit).

    Auch das ist natürlich möglich. Gleiche Gegenfrage wie oben.


    Ich frage mich, inwieweit historische Beispiele hier überhaupt tauglich sind. Wenn es um Demokratien gehen soll, führen Verweise auf Kelten oder Germanen mMn nicht weiter.

    Das stört doch keinen großen Geist (Karlsson vom Dach) 8)

  • Das scheint mir auch notwendigerweise so zu sein. Konkret könnte das bedeuten, dass in einer Apartheitsgesellschaft, die Apartheit in der Verfassung nicht in Frage gestellt werden kann, ohne das ganze Staatsgefüge aus den Angeln zu heben.

    Leider finde ich Dein Apartheitsbeispiel sehr plausibel. Über Israel weiß ich zuwenig, um eine Meinung zu äußern. Ich erlaube mir, doch noch mal ein historisches Beispiel zu nehmen, was geradezu exemplarisch dafür gelten kann: die Rede von Perikles, der Athens Vorherrschaft im Attischen Seebund mit den Worten verteidigte:

    Es droht euch der Verlust des Reiches, und Gefahr bedeutet der Hass, den ihr euch durch eure Herrschaft zugezogen habt. Von ihr zurückzutreten steht euch nicht mehr frei, ... Denn eine Art Tyrannis ist ja bereits die Herrschaft, die ihr ausübt; sie zu ergreifen mag ungerecht scheinen, sie loszulassen (ist) aber lebensgefährlich. (S. 62)

    Der Vollständigkeit halber: so etwas hat nach meinem Verständnis nichts mehr mit Demokratie oder anderen Verfassungen zu tun, sondern das ist blanke Staatsraison: es zählt nur noch das Überleben der Gemeinschaft um jeden Preis.


    Zu Deiner Frage, ob ich von einer Demokratie sprechen würde, wenn die Bürger einem Staatsapparat aus Angst folgen: ich würde solange nicht von einer Demokratie sprechen, wie die Bürger eben nur aus Angst gehorchen und die Unterdrückung aufrechterhalten werden muß, weil die Bevölkerung bei der geringsten Nachlässigkeit in der Unterdrückung revoltieren würde. Wenn die Lage sich aber soweit stabilisiert hat, daß die Bürger "gar nichts anderes mehr kennen" oder gar wollen, dann würde ich ihnen zumindest zubilligen, daß sie ehrlich glauben, in einer Demokratie zu leben.

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