Sur la route de Phalère (14)

Sanftes Erröten ist ein Topos der Liebessemantik des 19. Jahrhunderts. Das Intimsystem benötigt dazu einen gesellschaftlichen Kontext, der sicherstellt, daß das Erröten nicht die Folge eines längeren Atemanhaltens ist. Sanft erröten kann sie (denn es geht dabei nahezu ausschließlich um die Frau) allerdings nur, wenn sie über die Semantik der Liebe hinreichend informiert ist, wenn sie - um es mit einem Begriff der Romantik zu sagen - Ahnung hat. Hat sie keine Ahnung, liegt für's Erröten auch kein Grund vor. Das Erröten gehört zu den gesellschaftlich goutierten Codes der Kommunikation des Intimsystems. Es zeigt ihm, daß sie ihn verstanden hat. Das Erröten ist der evolutionary kick der Kommunikation, die sich nun stabilisieren muß, d.h. Anschlußkommunikation erzeugen muß. Ahnung bekommen die Frauen mit dem Aufkommen der Liebesromane, was die Gesellschaft zunächst beargwöhnt. Die Frauen sollen gerade so viel wissen, daß es zum Erröten reicht, aber nicht mehr. Deshalb werden Damenbibliotheken gegründet, um die Frauen zu schützen und zur Eindämmung ihrer Neugier.


Mit der Frühromantik entsteht zudem ein Netzwerk von Korrespondenzen zwischen den Frauen. Der Brief wird zu einem literarischen Genre. Hinzu kommt eine Salonkultur, die hauptsächlich von Frauen gepflegt wird. Bettina von Arnim, Caroline von Humboldt, Caroline Schlegel-Schelling, Rahel Varnhagen von Ense, Karoline von Günderode u.a. gehören zu den prominenten Briefschreiberinnen dieser Zeit.


Sanft erröten heißt auch: Unschuld signalisieren. Wer sich in Liebesangelegenheiten bereits schuldig gemacht hat, errötet nicht so schnell. Das Intimsystem bildet also eigene Codes aus, die es konditionieren. So hat sie nicht die Möglichkeit des ersten Schritts. Damit es zum ersten Schritt kommen kann, muß das Intimsystem mit Kontingenz angereichert werden. Sie kann "zufällig" ihr weißes Taschentuch in seinem Gesichtskreis "verlieren", was ihm eine Kommunikationsofferte ermöglicht, oder in Ohnmacht fallen u.ä.


All das bedeutet natürlich nicht, daß die Frauen früherer Jahrhunderte keine Ahnung von den Absichten der Männer hatten. Das Entscheidende sind nur die Codes der Kommunikation, also wie Intimsysteme angebahnt werden können. Um die Semantik der Liebe geht es, nicht um die Kundigkeit der beteiligten Bewußtseinssysteme.


In aller Regel erröten die Frauen heute nicht mehr. Der Code des Verstehens verläuft über Standards wie: "Gehen wir zu mir oder gehen wir zu dir?" Oder: "Möchtest du noch auf einen Kaffee mit reinkommen?" - Frühere Codes wie: "Soll ich Ihnen mal meine Briefmarkensammlung zeigen?" funktionieren nicht mehr und führen günstigstenfalls zu Irritationen.